Religiöse Bücher, Grenzen und Identitäten / Livres, frontières et identités religieuses

Das Projekt „Religiöse Buchpraxis der Frühen Neuzeit im interdisziplinären und transkonfessionellen Vergleich (Frankreich-Altes Reich)“ wurde vom Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann (Göttingen) und dem mit kulturanthropologischem Schwerpunkt arbeitenden Historiker Patrice Veit (Paris/Berlin) initiiert. Es wird von DFG und ANR finanziert. Im Projekt erforschen etwa 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland die zwischen 1500 und ca. 1800 entstandenen religiösen Druckwerke hinsichtlich ihrer Anwendungsdimensionen. Dabei tritt die komplexe Entwicklung von Religiosität, auch durch den Vergleich unterschiedlich geprägter Kulturräume, die wechselseitige Beeinflussung von Akteuren, Medium Druckwerk und Umgebung sowie die Ausbildung von oft handlungsleitenden religiösen Identitäten zu Tage.


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Dem Bereich religiöse Identität(en) war die vorläufige Abschlusstagung des Projekts gewidmet, die vom 11. bis 14. November vom Lichtenberg-Kolleg veranstaltet wurde. „Warum sollte man den Begriff der ‚Identität‘ als eine Fragestellung in einer historischen Untersuchung berücksichtigen? Vor allem weil er nicht eindeutig ist: Dabei muss die Analyse dessen, was die ‚Zugehörigkeit‘ zu einer kontinuierlichen Konstruktion macht, mit der Analyse der scheinbaren Evidenz, auf die eben diese Konstruktion von ‚Zugehörigkeit‘ hinausläuft, verbunden werden, sobald die Zugehörigkeit zu einer empfundenen bzw. als solche behaupteten Identität wird. 1. Es handelt sich zuerst darum, die fast selbstverständliche Äquivalenz zwischen Identität und Dauer infrage zu stellen. 2. Es handelt sich danach darum, die Verknüpfung zwischen dem Begriff der ‚Identität‘ und dem der ‚Kohärenz‘ zu analysieren. Die ‚Identität‘ schafft ein ‚wir‘, zu dem jedes ‚ich‘ eine komplexe und zugleich strukturierende Beziehung aufbaut. Identität gründet immer in der Alterität. 3. Schließlich handelt es sich darum, die Beziehungen zwischen Identität und Kontinuität ernst zu nehmen. Die Identität gründet im Postulat der Permanenz, auch wenn sie nur bei bestimmten Gelegenheiten – sog. ‚Identitätskundgebungen‘ – artikuliert werden.
Es ist unabdingbar solche zeitlichen Abläufe (rythmes temporels) zu reflektieren; jedoch auch die Art und Weise zu untersuchen, in der ein jeder versucht, seine individuelle Identität herauszustellen, je nachdem er allein oder in einer Gruppe, an diesem oder an jenem Ort handelt. Wie das Paar ‚Tradition‘/‚Aktualisierung‘ oder ‚Identität‘/‚Alterität‘ sind die zeitlichen Abläufe und die historische Offenheit (porosité) zu erforschen, um sie zugleich als gegeben uns als konstruiert begreifen zu können, d.h. um ihre Mehrdeutigkeit zum Thema zu machen und nicht als Hindernis einer wissenschaftlichen Analyse zu betrachten.“ (Christophe Duhamelle in einem internen Vorbereitungstext). Entsprechend widmete sich die Tagung bewusst dem Zusammenhang religiöser Identität, religiöser Druckwerke und konfessioneller Grenz(überschreitung)en in drei Bereichen: 1. personale und Gruppenidentität, 2. Konfessionelle Berührungsräume und 3. Transkonfessioneller und interkonfessioneller Textgebrauch (sog. Osmosen).

Jeder Bereich wurde durch kurze Referate „etablierter“ und „Nachwuchs-“ Forscherinnen und Forscher eingeleitet und wurde – so ist es gute Erfahrung aus den Tagungen des Projekts – ausführlich diskutiert. Der öffentliche Vortrag Prof. Kaspar von Greyerz‘ (Basel) zum Thema „Religiöse Lektüre in deutschsprachigen Selbstzeugnissen“ beschrieb anhand einschlägiger Selbstzeugnisse (Briefe, Tagebucheinträge, Nutzungsspuren etc.) den Kern dieser Identitätsbildung mit dem Blick auf Individuen über den gesamten Forschungszeitraum 1500 bis 1850.
Eine zusätzliche Dimension erhielt die Tagung im Lichtenberg-Kolleg Göttingen dadurch, dass die etwa 30 Teilnehmenden (Projektgruppe und Gäste) zum Abschluss einen Blick auf das gesamte Projekt werfen: Anhand von sechs vorbereiteten „statements“ und der Kommentierung durch Kaspar von Greyerz und Etienne François (FU Berlin) wurden Ergebnisse diskutiert, der Ertrag gesichert, die verschiedenen Ansätze aus den Forschungskulturen der Länder und Fächer betrachtet und Fortsetzungsdimensionen in den Blick genommen. (A. Ohlemacher)
Projekthomepage: www.buchpraxis.uni-goettingen.de