(d) Nutzen- und Wohlfahrtstheorie

Leitung: Prof. Dr. Rainer Marggraf

Für die Analyse von Nichtmarktaktivitäten ist (insbesondere von dem amerikanischen Nobelpreisträger Gary S. Becker) ein allgemeines ökonomisches Verhaltensmodell entwickelt worden. Die Verallgemeinerung gelang, weil das traditionelle Modell mit materiellen Nutzen- und Kostenbegriffen in einen allgemeinen Ansatz transformiert wurde mit einem „weichen“ und universell anwendbaren Nutzenbegriff unter der Beachtung von Opportunitätskosten. Dieses allgemeine Verhaltensmodell bietet die Basis, um die verschiedenen Motive der individuellen Wertschätzungen ökosystemarer Dienstleistungen in die Nutzentheorie zu integrieren.
Theoretisch analysiert wird weiter die Kompatibilität der ökonomischen Umweltbewertung mit den unterschiedlichen naturethischen Richtungen. Das ökonomische Konzept des nutzungsunabhängigen Wertes der natürlichen Umwelt bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Motive der individuellen Wertschätzungen der Umweltgüter zu berücksichtigen. Untersucht werden die Konsequenzen, die mit einer solchen Berücksichtigung für das ökonomische Modell individuellen Verhaltens (den homo oeconomicus) verbunden sind.
Bearbeitet wird weiterhin die Frage, von welchen Faktoren die individuelle Wertschätzung der natürlichen Umwelt abhängt. Sozioökonomische Variablen wie Einkommen und Familiengröße erklären nur einen geringen Teil der Variation der Zahlungsbereitschaft. Geprüft wird deshalb, welcher Erkenntnisfortschritt zu erzielen ist, wenn sich die ökonomischen Umweltbewertungen stärker an sozialpsychologischen Handlungstheorien orientieren. Eingesetzt wurden bisher die Theorie des geplanten Verhaltens von Ajzen, das Norm-Aktions-Modell von Schwarz sowie die Schutz-Motivations-Theorie von Rogers (Protection Motivation Theory, PMT). Da die Untersuchung ökologisch ‚funktionaler’ indirekt nutzungsabhängiger Werte oft Unsicherheits-, Risiko- und/oder Versicherungsaspekte berührt, wird derzeit vermehrt auf Grundlage der PMT gearbeitet.
Die Präferenzforschung des Arbeitsbereichs im Rahmen ökonomischer Umweltbewertungen erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Arbeitsbereich Umweltbildungsforschung (Frau Professor Dr. Susanne Bögeholz) sowie dem Arbeitsbereich Historische Anthropologie und Humanökologie (Prof. Dr. Bernd Herrmann). Das Ziel der Zusammenarbeit mit dem Arbeitsbereich Umweltbildungsforschung besteht darin, die Präferenzbildung zu endogenisieren und somit umfassendere Modelle für die menschliche Wertschätzung von Natur zu entwickeln. Weiterhin untersuchen wir die Frage wie ökonomisch motivierte Vorstellungen rationalen Entscheidens pädagogisch nutzbar gemacht werden können.
Von den Forschungsarbeiten des Arbeitsbereiches Historische Anthropologie und Humanökologie sind diejenigen von Relevanz für die ökonomische Naturbewertung, die historische Motive für den Umgang mit sowie Wertvorstellungen für Natur analysieren. Diese Arbeiten erlauben eine detaillierte Rekonstruktion der zunehmenden Verknappung der verschiedenen Umweltgüter und informieren über die empirische Bedeutung der unterschiedlichen nutzungsabhängigen und nutzungsunabhängigen Motive der Wertschätzung der Natur.
Auf der Ebene des wohlfahrtsökonomischen Forschungsprogramms geht es insbesondere um die Erarbeitung von Entscheidungskriterien dafür, welche „rein psychischen“ Nutzen und Kosten für Effizienzurteile relevant sein sollten und wie das Spannungsverhältnis zwischen Präferenz und Diskurs zu lösen ist.
Wie der Begriff Forschungsprogramm verdeutlicht, stellt die Wohlfahrtsökonomie eine komplexe, sich entwickelnde Struktur (im Sinn von z.B. LAKATOS und LAUDAN) dar. Die Darstellung von Theorien als organisierte Strukturen, die aus einem harten Kern grundlegender Prinzipien und Modellannahmen sowie einem Schutzgürtel von Hilfshypothesen bestehen, wurde entwickelt, um die Wissenschaftsentwicklung empirischer naturwissenschaftlicher Theorien zu beschreiben und wird hier übernommen, weil auch innerhalb der Wohlfahrtsökonomie verschiedene Varianten entwickelt wurden, die einen gemeinsamen harten Kern besitzen.
Der harte Kern der Wohlfahrtsökonomie besteht in der utilitaristischen Werttheorie, der Aggregierung der Interessen und dem konsequentialistischen Entscheidungskriterium. Die wichtigsten diesen Kern ergänzenden Hilfshypothesen beziehen sich auf die Fragen, ob durch Handlungen offenbarte Präferenzen mit Nutzen bzw. Wohlbefinden gleichzusetzen sind, welches Verhaltensmodell zu verwenden ist und ob alle Nutzenempfindungen kommensurabel sind. Zu all diesen Fragen sind innerhalb der Wohlfahrtsökonomie unterschiedliche Antworten entwickelt worden. Beispielsweise stellt NG der üblicherweise vorgenommenen Gleichsetzung von durch Handlungen offenbarte Präferenzen mit Nutzen bzw. Wohlbefinden einen Ansatz gegenüber, der zwischen Präferenzen und Nutzen unterscheidet, SEN argumentiert für eine Sichtweise menschlichen Verhaltens, die neben nutzenmaximierenden Handlungen auch Handlungen aus Pflichtgefühl kennt und HARSANYI hat ein Konzept multipler Präferenzordnungen entwickelt, das eine Alternative zu einer Reduktion aller Nutzenempfindungen auf eine gemeinsame Basis darstellt.
Die Vereinbarkeit des nutzungsunabhängigen Wertkonzepts mit dem harten Kern der Wohlfahrtsökonomie steht außer Frage, verlangt die utilitaristische Werttheorie doch gerade, daß alle wie auch immer motivierten Interessen der Individuen zu berücksichtigen sind. Klärungsbedürftig ist deshalb nicht, wie häufig behauptet wird, ob nutzungsunabhängige Werte (wohlfahrts)ökonomische Werte sind. Die relevanten Fragen lauten vielmehr, wie dieses Konzept (im Bereich der Hilfshypothesen) mit dem wohlfahrtsökonomischen Forschungsprogramm verknüpft ist und welche Implikationen mit ihm für die Weiterentwicklung dieses Forschungsprogramms verbunden sind.