19/12/2013:
Agenda-Bilanz: Alles nicht so schlimm mit den Hartz-Reformen?

Die von der damaligen rot-grünen Bundesregierung zwischen 2003 und 2005 durchgeführten Arbeitsmarktreformen (Hartz I-IV) stellen ohne Zweifel den radikalsten sozialpolitischen Eingriff in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands dar. Mit den Hartz-Reformen ist ein Gesetzespaket geschnürt worden, das u.a. die Entstehung von Beschäftigungsverhältnissen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses befördern und so dazu beitragen sollte, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Ob das gelungen ist, dazu will das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nun Bilanz ziehen: die aktuelle Ausgabe 2/2013 der Zeitschrift IAB-Forum widmet sich mit dem Schwerpunktthema "Zehn Jahre Agenda 2010" insbesondere dem Zusammenhang von Hartz-Reformen und der Entwicklung atypischer Beschäftigung.

Die Ergebnisse des Besuchs von IAB-Forschern "auf der Reformbaustelle" fallen gemäß einer die Publikation flankierenden Pressemeldung beruhigend positiv aus. So heißt es, die Hartz-Reformen hätten nicht zu einer "nachhaltigen" Beschleunigung des Wachstums der atypischen Erwerbsformen geführt. Sie hätten diesen Trend nur "zeitweise" verstärkt, und das auch nur bei den Minijobs, der Zeitarbeit und der Solo-Selbständigkeit. Bei der befristeten Beschäftigung und der sozialversicherungspflichtigen Teilzeit sei kein Effekt der Hartz-Reformen erkennbar. Die Entwicklung der Erwerbsformen zeige bereits seit den 1990er Jahren einen deutlichen Aufwärtstrend der atypischen Erwerbsformen, wobei die Ursachen für den Wandel der Erwerbsformen vielschichtig seien. Für Arbeitslose allerdings hätten die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, eine kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds und striktere Zumutbarkeitskriterien generell den Druck erhöht, "Konzessionen" bei der Aufnahme einer Beschäftigung in Kauf zu nehmen.

Ist also alles nicht so schlimm mit den Hartz-Reformen, wie vielfach behauptet wird? Die hier gezogene milde Bilanz der Agenda 2010 lässt eine Reihe von sehr entscheidenden Aspekten unberücksichtigt. So kann sie nur deshalb nicht negativ ausfallen, weil der Zusammenhang von Hartz-Reformen und den jahrelangen Lohnabsenkungen und Reallohnverlusten der Beschäftigten (siehe 19.12.2012), der wachsenden Einkommenspolarisierung (siehe 13.11.2013), der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Vermögenden siehe (03.02.2011), der Aufstockerproblematik (siehe 08.05.2013), den unwürdigen Ein-Euro-Jobs, dem ausufernden Niedriglohnsektor (siehe 24.06.2013) und dem Phänomen der Arbeitsarmut (siehe 24.05.2012) erst gar nicht in die Analyse einbezogen wird.

In einer der Begründungen für die Hartz-Gesetze hieß es unter anderem, man wolle unter dem Motto "Fördern und Fordern" die Eingliederungschancen der Leistungsempfänger/innen in ungeförderte Beschäftigung verbessern, insbesondere durch besonders intensive Beratung und Betreuung und Einbeziehung in die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. In der Realität ist nicht erst mit der Beschneidung der Arbeitsförderung vom Motto nur das Fordern umgesetzt worden. Versprochen wurde auch eine Halbierung der Arbeitslosigkeit bis 2005. Auch das wurde verfehlt.

Fazit: Eine Bilanz ist dem Wortsinne nach ein umfassendes Fazit, ein abschließender Überblick, der alle wichtigen Aspekte berücksichtigen sollte. Zwar weisen einige Autoren in ihren Beiträgen auch auf negative Begleiterscheinungen der Reformen hin. Insgesamt überwiegt aber eine positive Bewertung der Arbeitsmarktreformen. Man muss den Blickwinkel schon sehr arg verengen, um ein derart verharmlosendes Resümee ziehen zu können. Eine Bilanz ist das nicht.

Quellen:
IAB-Presseinformation vom 19.12.2013
Autorengemeinschaft (2013): Richtfest: Zehn Jahre Agenda 2010 - ein Besuch auf der Reformbaustelle. In: IAB-Forum, Nr. 2.


Weiterlesen:

DGB Bundesvorstand (Hg.) (2010): 5 Jahre Hartz IV ? keine Erfolgsstory, Arbeitsmarkt aktuell, Nr. 1/10, Berlin.


Dörre, K. (2013): Das neue Elend: Zehn Jahre Hartz-Reformen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3, S. 99-108.


Erlinghagen, M. (2010): Mehr Angst vor Arbeitsplatzverlust seit Hartz? Langfristige Entwicklung der Beschäftigungsunsicherheit in Deutschland. IAQ-Report Nr. 2, Duisburg.


Horn, G. (2011): Des Reichtums fette Beute. Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert, Frankfurt/M. / New York.


Wagner, A. (2010): Atypische Beschäftigung: Eine wissenschaftliche Bilanzierung, Abschlussbericht, Berlin.