10/06/2014:
Fair statt prekär für alle... - auch eine Frage der richtigen Strategie
Atypische und prekäre Arbeitsverhältnisse greifen immer weiter um sich. Niedriglöhne, Minijobs, Teilzeit und befristete Beschäftigung, Solo-Selbstständigkeit und Leiharbeit breiten sich in fast allen Branchen aus. Die jüngste Ausgabe des Buchs "Gute Arbeit", das jährlich von den ver.di- bzw. IG Metall-Vorstandsmitgliedern Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban herausgegeben wird, zeigt die Trends auf, durch die das Prekäre normal und das Normale prekär zu werden droht.
Anlässlich der Veröffentlichung des Jahrbuchs stellt jungewelt.de zentrale Thesen aus einem Beitrag des Jenaer Soziologen Klaus Dörre vor, der sich für das Jahrbuch mit der Frage auseinandergesetzt hat, mit welchen Strategien die gewerkschaftliche Interessenvertretung der Prekarisierung der Erwerbsarbeit begegnen kann. Den Gewerkschaften weist er dabei die Aufgabe zu, zwischen atypisch und regulär Beschäftigten Brücken zu bauen. Die exklusive Vertretung von Stammbelegschaften sei keine Alternative.
jungewelt.de zufolge sehe Dörre die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer "prekären Vollerwerbsgesellschaft". Allein im vergangenen Jahrzehnt sei der Anteil atypischer Arbeitsverhältnisse (also von Leiharbeit, Befristungen, Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung) von 19,8 auf 25,4 Prozent gestiegen. Eine Rückkehr zur "fordistischen Vollerwerbsgesellschaft" werde es indes nicht geben, was weitreichende Implikationen für das Handeln der Gewerkschaften habe.
Das Problem sei nicht allein die Leiharbeit, auf die sich die gewerkschaftlichen Aktivitäten in den vergangenen Jahren konzentriert hätten. Und es sei durch die Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze längst nicht behoben. Auch die von Interessenvertretungen fast ausnahmslos praktizierte Strategie, zunächst die (häufig schrumpfenden) Stammbelegschaften zu sichern, würde nur zu einer Vertiefung bestehender Spaltungslinien auf dem Arbeitsmarkt und innerhalb der Betriebe führen. Nötig sei vielmehr "ein offensives gewerkschaftliches Organizing prekär Beschäftigter, das die gewerkschaftliche Vertretungslücke in diesem Bereich allmählich schließt".
Als Hoffnungszeichen werte Dörre es, dass das Thema Prekarisierung mittlerweile zurück auf der gewerkschaftlichen Agenda sei. Die in einigen Branchen vereinbarten Tarifregelungen für Leiharbeiter, zum Beispiel Branchenzuschläge, hätten die Problematik zwar nicht gelöst, doch belegten sie, dass die Tendenz zur exklusiven Solidarität von Stammbeschäftigten nicht schicksalhaft vorgezeichnet sei.
Der Wissenschaftler halte es daher für eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften, eine "kognitive Brücke zwischen fragmentierten gruppenspezifischen Erfahrungen" herzustellen und zu nutzen. Ein solches verbindendes Element im Denken prekärer und formal gesicherter Beschäftigtengruppen erkenne Dörre in der gemeinsamen Kritik an einem verselbständigten Wettbewerbsprinzip, an einer Steigerungslogik des "immer mehr und nie genug".
Quelle: jungewelt.de vom 10.06.2014
Weiterlesen:
Dörre, K. (2014): Prekarisierung und Gewerkschaften - Gegenstand einer öffentlichen Soziologie. In: Schröder, L./ Urban, H.-J. (Hg.) (2014): Gute Arbeit 2014: Profile prekärer Arbeit - Arbeitspolitik von unten, Frankfurt/M, S. 25-48.
Datenanhang zum Jahrbuch Gute Arbeit 2014.