Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983). Roman

Inhalt


Der erste Teil des Romans handelt von der schwierigen Beziehung der als Konzertpianistin gescheiterten Klavierlehrerin Erika Kohut zu ihrer Mutter. Auch mit Ende 30 wohnt die Tochter noch im Elternhaus und wird durch die Mutter fremdbestimmt: Die ältere Frau krittelt an Erikas Kleidung herum, schimpft sie, wenn sie spät nach Hause kommt, verwehrt ihr jegliche Privatsphäre und damit auch ein eigenständiges Liebesleben. So die Ausgangslage, aus der heraus Erika Kohut einerseits ein heimliches Leben als Voyeurin führt, andererseits im zweiten Romanteil in einem verqueren Abnabelungsprozess ein Verhältnis zu einem ihrer Schüler, dem Studenten Walter Klemmer, einzugehen versucht. Nach Offenbarung ihrer sexuellen Erniedrigungs- und Gewaltfantasien endet dieser Versuch jedoch in einem tatsächlichen Gewaltexzess sowie einer Vergewaltigung durch Walter, der Erika bereits weit vorher für „krankhaft verkrümmt“ (Jelinek 1983, 84) hält und sich vornimmt: „Erika Kohut, seine Lehrerin, wird er auch noch unterwerfen“ (ebd.).

Einordnung


Elfriede Jelinek wurde vielfach und auch international ausgezeichnet. 2004 erhielt die den Nobelpreis für Literatur. Die studierte Organistin schreibt und veröffentlicht bereits seit Mitte der 1960er-Jahre, steigt aber erst mit der Veröffentlichung von Die Klavierspielerin im Jahr 1983 zur durchaus umstrittenen Star-Autorin auf. Dieser Erfolg hängt unmittelbar an den damals für skandalträchtig gehaltenen detailreichen Beschreibungen sexueller Fantasien und deren Projektion auf die Person Jelinek durch die Presse. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs (1974–1991) war Jelinek (und ist es noch immer) eine dezidiert politische und in dieser Hinsicht auch radikale Autorin. Über ihre Theaterstücke schrieb sie: „Ich bemühe mich nicht um abgerundete Menschen mit Fehlern und Schwächen, sondern um Polemik, starke Kontraste, harte Farben, Schwarz-Weiß-Malerei; eine Art Holzschnitttechnik. Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren hingetreten sind“ (Jelinek 1984, 14). Wenigstens zu dieser Zeit noch ganz einer Agitation des Publikums verpflichtet, ist Jelinek in eine Reihe mit Autoren wie Bertolt Brecht und Peter Weiss zu stellen.
Auch Die Klavierspielerin ist sichtlich geprägt vom zeitgenössischen linkspolitischen Diskurs. Die Psychoanalyse, die im Zuge der 68er-Bewegung und dem Erfolg poststrukturalistischer Denker wie Jacques Lacan (Schriften, 1966) und Gilles Deleuze/Félix Guattari (Anti-Ödipus, 1972), wiederauflebt, hat starken Einfluss auf Jelinek, die auch Klaus Theweleits Grundlegung kritischer Männlichkeitsforschung, Männerphantasien (1977), kannte. Jelineks Schilderung der innerfamiliären Dynamik ist von einem nahezu freudianischen Gepräge, gerade auch hinsichtlich des außerhalb vermeintlicher Normen liegenden sexuellen Begehrens Erikas. In Jelineks Darstellung wird die Psychoanalyse sowohl zitiert als auch parodiert. Auch einige Größen der Literatur wie Goethe, Ingeborg Bachmann oder Franz Kafka werden auf diese Weise an- und mitunter auch vorgeführt. Diese Form der Anspielung, die bis zur Montage reichen kann, ist ein typisches Schreibverfahren Jelineks. Auch der Feminismus der sogenannten zweiten Welle ab Ende der 1960er-Jahre ist zentral für Jelineks Roman, wie die explizite Darstellung und damit einhergehende Anprangerung patriarchaler Gewalt zeigt. Für das Aufleben der Frauenbewegung entscheidend sind praktische Aktionen wie die von Alice Schwarzer initiierte Kampagne „Wir haben abgetrieben!“ (Stern 1971) gegen den § 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, oder die Etablierung autonomer Frauengruppen und Frauenzentren. Als theoretische Wegbereiterinnen gelten unter anderem Simone de Beauvoir mit Das andere Geschlecht (1949) und Kate Millet mit Sexus und Herrschaft (1969).
Jelinek schreibt in einem zwar zugänglichen, dennoch charakteristischen Stil, der Nüchternheit und Drastik zu einem eigenwilligen Gemisch vermengt und besonders in literaturwissenschaftlichen Kreisen positiv aufgenommen wurde.

Literaturangaben


  • Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Hamburg 1983.
  • Jelinek, Elfriede: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. In: TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14–16.
  • Stern, 06. Juni 1971. Gruner + Jahr Verlag.


Ausgaben


  • Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Mit einem Nachwort von Uta Degner. Ditzingen: Reclam 2025. (Reclams Universal-Bibliothek 14567)
  • Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin [Erstausgabe]. Reinbek: Rowohlt 1983. (SDP-Bibliothek, Signatur: X-JE 44 4/8)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


5–8 Stunden, je nach Lesegeschwindigkeit

Leseprobe


Die Zeit vergeht, und wir vergehen in ihr. Unter einer gläsernen Käseglocke sind sie miteinander eingeschlossen, Erika, ihre feinen Schutzhüllen, ihre Mama. Die Glocke läßt sich nur heben, wenn jemand von außen den Glasknopf oben ergreift und ihn in die Höhe zieht. Erika ist ein Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos. Erika hat keine Geschichte und macht keine Geschichten. Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren. Eingebacken ist Erika in die Backform der Unendlichkeit. Diese Unendlichkeit teilt sie freudig mit ihren geliebten Tonkünstlern, doch an Beliebtheit kann sie es mit jenen beileibe nicht aufnehmen. Erika erkämpft sich einen kleinen Platz, noch in Sichtweite der großen Musikschöpfer. Es ist ein heißumkämpfter Ort, denn ganz Wien will ebenfalls hier zumindest eine Schrebergartenhütte aufstellen. Erika steckt sich ihren Platz des Tüchtigen ab und fängt an, die Baugrube auszuheben. Sie hat sich diesen Platz durch Studieren und Interpretieren ehrlich verdient! Schließlich ist auch der Nachschöpfer noch eine Schöpferform. Er würzt die Suppe seines Spiels stets mit etwas Eigenem, etwas von ihm selber. Er tropft sein Herzblut hinein. Auch der Interpret hat noch sein bescheidenes Ziel: gut zu spielen. Dem Schöpfer des Werks allerdings muß auch er sich unterordnen, sagt Erika. Sie gibt freiwillig zu, daß das für sie ein Problem darstellt. Denn sie kann und kann sich nicht unterordnen. Ein Hauptziel hat Erika jedoch mit allen anderen Interpreten gemeinsam: Besser sein als andere!


(Zitat: Elfriede Jelinek: Die Klavierspieler. Reinbek 1983, S. 20f. Der Textausschnitt ist über die Leseprobe des Rowohlt-Verlags frei zugänglich.)

Was finde ich an dem Text interessant?


Die Klavierspielerin ist leicht zu lesen, aber schwer zu verdauen. Jelineks Prosa geht runter wie Öl, sie hat ein gutes Gespür für Komik. Sie zieht ihre Figuren ins Lächerliche, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt: Die Eigenheiten und Manierismen der Figuren sind so schräg, dass man trotz aller verstörenden Ereignisse immer wieder ins Schmunzeln gerät – und dann stellt sich eine peinliche Beklemmung ein, weil man ein kurzes Gefühl der Belustigung empfunden hat. Sollte man nicht Mitgefühl haben? Ja, das hat man auch (manchmal). Doch keine der Figuren tritt als Sympathieträger auf, Mitgefühl ist nicht, worum es dem Roman bestellt ist. Protagonistin Erika Kohut scheitert in ihrem Aufbegehren und tut anschließend, als wäre nichts gewesen. Diese Ausweglosigkeit ist für die Leser*innen, die die quälenden Dynamiken von außen perfekt durchschauen, kaum begreiflich, wo die Lösung doch – rational betrachtet – auf der Hand liegt: bloß weg von der Mutter. Erika Kohut handelt aber nicht rational, sondern letztlich in Übereinstimmung mit bürgerlichen Vorstellungen von Geschlechterrollen, Sexualmoral und Familie. Schonungslos und radikal lenkt Jelinek die Aufmerksamkeit auf die Irrationalität des Alltags, den die Figuren für selbstverständlich halten.

Frederik Eicks (Doktorand)