Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888). Novelle

Inhalt


Die Novelle erzählt die Geschichte Hauke Haiens, der als Sohn des Kleinbauern und Landmessers Tede Haien an der Küste Nordfrieslands geboren wird, unter ungewöhnlichen Umständen zum Deichgrafen wird, bei einer Sturmflut ums Leben kommt und zu einer regionalen Spukerscheinung wird, „Schimmelreiter“ genannt.
Hauke Haien interessiert sich seit seiner Kindheit für Landmessung und Deichbau, eignet sich autodidaktisch außergewöhnlich viel Wissen an und erkennt, dass die heimischen Deiche verbessert werden müssen. Der soziale Außenseiter verdingt sich als Knecht beim Deichgrafen Tede Volkerts und hilft ihm und seiner Tochter Elke, die den Vater bei der Buchführung unterstützt, auch in der Planung und Organisation deichpflegerischer Arbeiten. Elke Volkerts und Hauke Haien – beide klug und „geborene Rechner“ (Storm 1988, Bd. 3, S. 657) –, verlieben sich ineinander und nach dem Tod ihrer Väter heiraten sie. Elke ermöglicht es durch diese Heirat, dass Hauke, dessen besondere Fähigkeiten bekannt sind, nun auch über genügend Land und finanzielle Mittel verfügt und zum neuen Deichgrafen werden kann. Als Deichgraf lässt Hauke einen neuen Deich nach eigenen Plänen bauen, um die regelmäßigen Zerstörungen des Landes durch Sturmfluten zu unterbinden und neues Nutzland zu gewinnen. Hauke ist umstritten: Einerseits wird seine Kompetenz von Vielen anerkannt, andererseits wird er nicht nur von Neidern und Dorfbewohnern beargwöhnt, die sich über die hohe Arbeitsbelastung durch den Deichbau beschweren, sondern auch von allen, denen seine Rationalität, seine Unrast und seine Kritik am Aberglauben seiner Mitmenschen nicht geheuer vorkommen und die ihn mit dem Teufel im Bunde sehen. Zum Symbol für das Zwielichtige und Unheimliche Haukes aus Sicht der Dorfbewohner wird sein Schimmel, den er von einem undurchschaubaren „ruppige[n] Kerl“ (ebd., S. 702) günstig erworben hat und der für den ‚Widergänger‘ eines unheimlichen Pferdegerippes auf der nahen Jevershallig gehalten wird. Bei einer besonders starken Sturmflut bricht der alte Deich, dessen Instandsetzung Hauke vernachlässigt hat, und der Koog wird überflutet. Hauke beobachtet vom Deich aus, wie Elke und Wienke, die kleine, geistig behinderte Tochter der beiden, ertrinken und stürzt sich auf seinem Schimmel mit den Worten „Herr Gott, nimm mich; verschon die Andern!“ (ebd., S. 753) in den Abgrund.
Die Novelle hat einen dreifachen Rahmen: Erzählt wird Hauke Haiens Geschichte, die sich um 1750 (ebd., S. 639) zugetragen hat, von dem „Schulmeister“ (ebd., S. 638) des Dorfes während einer Sturmnacht im Wirtshaus. Er erzählt diese Geschichte dem namenlosen zweiten Erzähler, einem Fremden, der auf dem Deich im zunehmenden Sturm einem unheimlichen Reiter auf weißem Pferd begegnet ist – dem „Schimmelreiter“, wie er von den Anwesenden im Wirtshaus identifiziert wird (vgl. ebd., S. 638). Den äußeren Erzählrahmen bildet die Erinnerung eines ebenfalls namenlosen dritten Erzählers an die Lektüre dieser Novelle in einer Zeitschrift, die er vor sehr langer Zeit im Haus seiner Großmutter gelesen und „niemals aus dem Gedächtnis verloren“ (ebd., S. 634) habe.

Einordnung


Theodor Storms Novellen, die zwischen 1848 und 1888 erschienen, gelten als besonders wichtige und typische Erzähltexte des deutschsprachigen Realismus (vgl. Stockinger 2010, S. 139). In der zeitgenössischen Debatte über die Novelle vertrat Storm eine pointierte Position: „[…] die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkte stehen Konflikt, von welchem aus sich das Ganze organisiert […].” (Storm 1988, Bd. 4, S. 409)
Der Schimmelreiter ist Storms letzte Novelle und zugleich seine bekannteste. Im Erstdruck erschien sie 1888 in der Zeitschrift „Die deutsche Rundschau“ (Bd. 55). Storm bezieht sich auf verschiedene Quellen, allen voran eine norddeutsche Sage, die er – wie der Rahmenerzähler – in seiner Jugend gelesen, aber nicht wiedergefunden hat (vgl. Laage 1988, S. 1066), aber auch auf historische Studien über den Deichbau an der Nordsee, über den autodidaktischen Landmesser, Mathematiker und Deichvogt Hans Momsen u.a. Schon die ersten Rezensionen beurteilten die Erzählung ausgesprochen positiv, die weitere Rezeption verläuft ähnlich. Der Konflikt in dieser Erzählung – den man u.a. als Widerstreit zwischen dem rationalen Weltbild Haukes Haiens und der irrationalen Weltsicht seiner Gegenspieler, zwischen Neuerung und Tradition verstehen kann – ist früh gesehen worden; gelobt wurden das kunstvolle Erzählen und der Umgang mit dem Genre ‚Novelle‘ (vgl. die Rezeptionszeugnisse in Laage 1988, S. 1085-1088). Strittig bleibt aber auch unter heutigen Interpretinnen und Interpreten die Einschätzung des Protagonisten: Ist er das verkannte geniale Individuum, der durch bornierte und neidische Zeitgenossen in den Tod getriebene Aufklärer oder der hochmütige, rücksichtslose Fanatiker, der die Werte der Gemeinschaft missachtet und sich selbst ein Denkmal setzen will? Da die Erzählung uneindeutige Ansatzpunkte für Wertungen bietet, scheint sie kontroverse Deutungen herauszufordern. Sie kann aber auch eine vermittelnde Position nahelegen, die gerade in ihrer Uneindeutigkeit die entscheidende Qualität sieht (vgl. Neumann 2019). Die Novelle wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt.

Literaturangaben


  • Storm, Theodor: Sämtliche Werke in 4 Bdn. Hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 3: Novellen 1881-1888. Bd. 4: Märchen, Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988.
  • Storm, Theodor: Der Schimmelreiter (1888). In: Ebd., Bd. 3, S. 634-756.
  • Laage, Karl Ernst: Kommentar. In: Ders. (Hg.): Theodor Storms sämtliche Werke in 4 Bdn. Bd. 3: Novellen 1881-1888. Frankfurt a. M. 1988, S. 757-1124.
  • Neumann, Christian: Und er reitet immer noch. Der Deichgraf Hauke Haien als fortwährende Reizfigur in der „Schimmelreiter“-Rezeption. In: Theodor-Storm-Gesellschaft. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 68 (2019), S. 61-83.
  • Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin 2010.


Ausgaben


  • Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm. Historisch-kritische Edition. Hg. von Gerd Eversberg. Unter Mitarbeit von Anne Petersen. Berlin 2014. (SDP-Bibliothek: Signatur V-ST 60 5/60:9)
  • Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle. Hg. v. Sabine Wolf. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Ditzingen 2021 (Reclam XL – Text und Kontext, Nr. 16132).


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Blödorn, Andreas / Marianne Wünsch: Der Schimmelreiter. In: Christian Demandt / ‎Philipp Theisohn (Hg.): Storm-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 250-259.
  • Blödorn, Andreas: Storms „Schimmelreiter“. Vom Erzählen erzählen. In: Der Deutschunterricht 57/2 (2005), S. 8-17.
  • Segeberg, Harro: Technik und Naturbeherrschung im Konflikt II. Theodor Storms Erzählung „Der Schimmelreiter“ (1888) als Zeitkritik und Utopie. In: Ders.: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von
  • Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 55-106.
  • Theodor Storm Gesellschaft


Lesedauer


Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit Gert Westphal: 4 Stunden, 43 Minuten

Leseprobe


„Elke war totenblaß geworden. »Und du mußt noch einmal hinaus?«
Er ergriff ihre beiden Hände und drückte sie wie im Krampfe in die seinen. »Das muß ich, Elke.«
Sie erhob langsam ihre dunkeln Augen zu ihm, und ein paar Sekunden lang sahen sie sich an; doch war's wie eine Ewigkeit. »Ja, Hauke«, sagte das Weib; »ich weiß es wohl, du mußt!«
Da trabte es draußen vor der Haustür. Sie fiel ihm um den Hals, und einen Augenblick war's, als könne sie ihn nicht lassen; aber auch das war nur ein Augenblick. »Das ist unser Kampf!« sprach Hauke; »ihr seid hier sicher; an dies Haus ist noch keine Flut gestiegen. Und bete zu Gott, daß er auch mit mir sei!«
Hauke hüllte sich in seinen Mantel, und Elke nahm ein Tuch und wickelte es ihm sorgsam um den Hals, sie wollte ein Wort sprechen, aber die zitternden Lippen versagten es ihr.
[362] Draußen wieherte der Schimmel, daß es wie Trompetenschall in das Heulen des Sturmes hineinklang. Elke war mit ihrem Mann hinausgegangen; die alte Esche knarrte, als ob sie auseinanderstürzen solle. »Steigt auf, Herr!« rief der Knecht, »der Schimmel ist wie toll; die Zügel könnten reißen.« Hauke schlug die Arme um sein Weib. »Bei Sonnenaufgang bin ich wieder da!«
Schon war er auf sein Pferd gesprungen; das Tier stieg mit den Vorderhufen in die Höhe, dann, gleich einem Streithengst, der sich in die Schlacht stürzt, jagte es mit seinem Reiter die Werfte hinunter, in Nacht und Sturmgeheul hinaus. »Vater, mein Vater!« schrie eine klägliche Kinderstimme hinter ihm darein; »mein lieber Vater!«”

(Zitat: TextGrid Repository (2012). Theodor Storm: Erzählungen. Der Schimmelreiter. TextGrid Digitale Bibliothek)

Was finden wir an dem Text interessant?


Die Novelle fasziniert uns besonders durch ihre Verbindung von Rationalität und übernatürlicher, gespenstischer Atmosphäre. Diese Atmosphäre wird durch die dreifache Rahmung und dadurch, dass die Lebensgeschichte Hauke Haiens, die sich vor vielen Jahren ereignet haben soll, von dem Schulmeister als eine Art Legende geschildert wird und dass der Schimmelreiter nach seinem Tod auf dem Deich umherzuspuken scheint, noch verstärkt. Aber auch die Hauptfigur selbst macht die Handlung spannend, da Hauke als sehr ambivalente, nicht durchschaubare Figur auftritt und bis zuletzt vielfältige Deutungen auch auf der Leser:innenseite zulässt.

Sidney Lazerus (M.A.-Studierende) und Simone Winko (Professorin)