E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (1816). Erzählung

Inhalt


In der Erzählung geht es um den jungen Studenten Nathanael, der in einem Brief zunächst von einem Kindheitstrauma berichtet. Als Kind wird ihm das Entsetzen erregende „Ammenmärchen” (Hoffmann 2021, S. 8) des Sandmanns erzählt, der Kindern die Augen rauben soll. An vielen Abenden kommt der Advokat Coppelius zu Besuch, der mit Nathanaels Vater heimlich alchemistische Experimente durchführt. Die Kinder werden, sobald die Schritte des Advokaten auf der Treppe zu hören sind, mit der Begründung, der Sandmann komme, eiligst ins Bett geschickt. Fortan assoziiert der fantasievolle Nathanael den „widerwärtigen Coppelius” (ebd.) mit dieser Schreckensfigur. Bei einem der Experimente stirbt schließlich der Vater und Coppelius verschwindet spurlos.
Als Erwachsener begegnet Nathanael dem Wetterglashändler Giuseppe Coppola, den er tief beunruhigt als den gefürchteten Coppelius wiederzuerkennen glaubt und die „feindliche Erscheinung” (ebd., S. 12) fest als kommendes Unheil deutet. Coppola verkauft ihm ein Fernglas, durch das Nathanael im Haus gegenüber seiner Wohnung Olimpia, die schöne Tochter seines Physikprofessors Spalanzani, beobachten kann. Er verliebt sich in sie, vergisst in seiner Besessenheit seine Verlobte Clara und ignoriert die Warnungen seines Studienfreundes, der ihn auf das seltsam steife, passive Verhalten Olimpias hinweist. Als Nathanael schließlich erfährt, dass Olimpia bloß ein Automat ist, der von Spalanzani und Coppola konstruiert wurde, verfällt er dem Wahnsinn. Nach einer kurzen Genesung wird er nach einem Blick durch sein Fernglas erneut vom Wahnsinn bemächtigt und versucht, Clara von einem Turm zu stoßen. Der Bruder Claras kann dies gerade noch verhindern. Am Ende springt Nathanael, nachdem er den Advokaten Coppelius in der Menschenmenge unten erblickt, selbst in den Tod.

Einordnung


Der Sandmann eröffnet Hoffmanns ersten Teil des Erzählzyklus mit dem als programmatisch zu verstehenden Titel Nachtstücke, mit dem er an das Genre der Schauerliteratur anschließt (Neumeyer 2015, S. 47). Während seine erstpublizierte Erzählsammlung Fantasiestücke in Callots Manier (1814) sehr positive Resonanz erfuhr und Hoffmann sich einen Namen als Schriftsteller machen konnte, hatten seine Nachtstücke dagegen nicht denselben Effekt (ebd., S. 46). Insbesondere durch das Urteil Goethes erfuhr Hoffmanns Werk eine schwerwiegende Abwertung, die Thematisierung der Nachtseiten des Menschen löste bei ihm wie bei vielen anderen ein Unbehagen aus (Jobst 2015, S. 409). Hier zeigt sich der romantische Einfluss bei Hoffmann. Im Unterschied zur Weltanschauung in der Aufklärung zeichnen sich Romantiker durch eine größere Skepsis gegenüber dem Verstand aus und beschäftigen sich verstärkt mit dem Unbewussten (Steinecke 2004, S. 267f.). Trotz der meist abschätzigen Kritik von Seiten zeitgenössischer, deutscher Autoren gegenüber Hoffmanns Werk wie auch seiner Person, die sich auch in der auf die phantastischen Inhalte seiner Texte anspielende Bezeichnung „Gespenster-Hoffmann“ ausdrückt, galt er als einer der erfolgreichsten Autoren beim Lesepublikum (Jobst 2015, S. 409). Er verstand sich nicht nur als Schriftsteller, sondern war darüber hinaus als Maler und Komponist gleichfalls fantastischer und humoristischer Werke tätig (Steinecke 2004, S. 7). Die drei Künste gehörten für ihn eng zusammen (ebd., S. 15). Thematisch kreist Der Sandmann um die verwischte Grenze zwischen Realität und Wahnsinn, zwischen innerer und äußerer Welt. Ein wichtiges Motiv stellt das Augenmotiv dar. Der für die Erkenntnis zentrale Sehsinn wird durch die romantische Perspektive bzw. Fantasie manipuliert, was zu einer epistemischen Verwirrung und schließlich zum Realitätsverlust des Protagonisten führt, so eine mögliche Interpretation (Herrmann 2015, S. 50). Mithilfe optischer Metaphorik – etwa durch das Perspektiv Coppolas – wird „die unhintergehbare Subjektivität und Perspektivik [der] Wahrnehmung” betont (Schneider 2015, S. 327). Ein wichtiger Begriff für Hoffmanns Poetik ist das „Serapiontische Prinzip”, wobei das ‚innere’ Schauen beim Dichter eine zentrale Stellung einnimmt und Hoffmanns großes Interesse an der physiologischen Wahrnehmung des Menschen verdeutlicht (ebd., S. 328). Insbesondere in seinen Nachtstücken wird die Einbildungskraft aufgerufen, was auf die nicht mimetische Literaturkonzeption des Autors hinweist (Neumeyer 2015, S. 46).
Narratologisch ist Der Sandmann geprägt von einer hohen Polymodalität durch verschiedene Erzählebenen und wechselnde Fokalisierungen. Dadurch entstehen zahlreiche Uneindeutigkeiten des Textes. Die Verunsicherung, die ein Gefühl des Unheimlichen auslösen kann, betrifft demnach nicht nur die Figuren wie Nathanael, der nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Wahn unterscheiden kann, auch der Leser bewegt sich „in einem hermeneutischen Dunkel” (ebd., S. 47). Die Vielschichtigkeit des Werks Hoffmanns führte dazu, dass es bei den wechselnden Denkansätzen und Literaturtheorien über die Zeit jeweils immer neue Aktualität erlangte und heute zur Weltliteratur gehört (Steinecke 2004, S. 9). Vornehmlich Der Sandmann wurde vielfach interpretiert und auch verfilmt. So hatte etwa die Rezeption durch Sigmund Freud, v.a. in seinem Essay Das Unheimliche (1919), eine nachhaltige Wirkung für vermehrt psychoanalytische Interpretationen der Erzählung (Schneider 2015, S. 330).

Literaturangaben


  • Herrmann, Britta: Der Sandmann (1816). In: E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 48–53.
  • Hoffmann, E. T. A.: Der Sandmann. Textausgabe mit Literaturhinweisen und Nachwort. Hg. von Rudolf Drux. Ditzingen 2021.
  • Jobst, Kristina: Rezeption und Wirkung in der deutschsprachigen Literatur. Romantik, Vormärz und Realismus. In: E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 409–411.
  • Neumeyer, Harald: Einführung. In: E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 46–47.
  • Schneider, Sabine: Aisthesis/Wahrnehmung. In: E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015, S. 327–333.
  • Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk. Leipzig 2004.


Ausgaben


  • Hoffmann, E. T. A.: Der Sandmann. Historisch-kritische Edition. Hg. von Kaltërina Latifi. Frankfurt a. M./Basel 2011. (SDP-Bibliothek: Signatur: V-HO 25 4/18)
  • Hoffmann, E. T. A.: Der Sandmann. Hg. v. Max Kämper. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Ditzingen 2021 (Reclam XL – Text und Kontext, Nr. 16100).


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Detering, Klaus: E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk. Überblick und Einführung. Würzburg 2010.
  • Feldges, Brigitte/Stadler, Ulrich: E. T. A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung. Mit je einem Beitrag von Ernst Lichtenhahn und Wolfgang Nehring. München 1986.
  • Jahraus, Oliver (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann. 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl. Ditzingen 2019.
  • Lieb, Claudia: Der Sandmann. In: E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Detlef Kremer. 2., erweiterte Aufl. Berlin/New York 2010, S. 169–185.
  • E.T.A.-Hoffmann-Portal
  • E.T.A.-Hoffmann-Gesellschaft


Lesedauer


  • Individuelle Lesezeit: 1 Stunde, 7 Minuten (Reclam-Ausgabe 2021: 42 Seiten)
  • Hörbücher:
    - Ungekürzte Lesung mit Gerd Wameling: 1 Stunde, 31 Minuten
    - Ungekürzte Lesung mit Joachim Schönfeld: 1 Stunde, 19 Minuten


Leseprobe


„Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich dir, günstiger Leser, zu erzählen unternommen. Hast du, Geneigtester, wohl jemals etwas erlebt, das deine Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar erfüllte, alles andere daraus verdrängend? Es gärte und kochte in dir, zur siedenden Glut entzündet, sprang das Blut durch die Adern und färbte höher deine Wangen. Dein Blick war so seltsam, als wolle er Gestalten, keinem andern Auge sichtbar, im leeren Raum erfassen, und die Rede zerfloß in dunkle Seufzer. Da frugen dich die Freunde: »Wie ist Ihnen, Verehrter? – Was haben Sie, Teurer?« Und nun wolltest du das innere Gebilde mit allen glühenden Farben und Schatten [386] und Lichtern aussprechen und mühtest dich ab, Worte zu finden, um nur anzufangen. Aber es war dir, als müßtest du nun gleich im ersten Wort alles Wunderbare, Herrliche, Entsetzliche, Lustige, Grauenhafte, das sich zugetragen, recht zusammengreifen, so daß es wie ein elektrischer Schlag alle treffe. Doch jedes Wort, alles, was Rede vermag, schien dir farblos und frostig und tot. Du suchst und suchst und stotterst und stammelst, und die nüchternen Fragen der Freunde schlagen wie eisige Windeshauche hinein in deine innere Glut, bis sie verlöschen will. Hattest du aber wie ein kecker Maler erst mit einigen verwegenen Strichen den Umriß deines innern Bildes hingeworfen, so trugst du mit leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben auf, und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß die Freunde fort, und sie sahen, wie du, sich selbst mitten im Bilde, das aus deinem Gemüt hervorgegangen!“

(Zitat: TextGrid Repository (2012). E.T.A. Hoffmann: Erzählungen, Märchen und Schriften. Nachtstücke. Erster Teil. Der Sandmann. TextGrid Digitale Bibliothek)

Was finde ich an dem Text interessant?


Vor allem die komplexe Erzähltechnik wie etwa die Multiperspektivität konnte mein Interesse am Sandmann wecken, durch die man als Leser:in sehr im Unklaren gelassen und sogleich zu eigenen Deutungen angeregt wird. So bleibt beispielsweise – vor allem durch die Technik des unzuverlässigen Erzählens – bis zum Ende die Frage offen, ob die Figuren Coppelius und Coppola identisch sind oder ob sich der Protagonist, der eine sehr ambivalente Weltwahrnehmung hat, dies nur einbildet. Ist Nathanaels Wahnsinn psychologisch erklärbar oder gibt es tatsächlich dämonische Kräfte, die auf ihn einwirken? Jede Interpretation scheint immer auch Widersprüche zu enthalten, was die Neugier noch verstärkt. Insbesondere die ihr eigentümliche Unerklärbarkeit und Rätselhaftigkeit macht die Erzählung interessant.


Sidney Lazerus (M.A.-Studierende)