Christian Kracht: Faserland (1995). Roman

Inhalt


Der in acht Kapitel gegliederte Roman handelt von einem namenlos bleibenden jungen Mann, der ziellos durch Deutschland reist und von seinen Reisebeobachtungen erzählt. Vom Norden Deutschlands in Sylt reist er immer weiter Richtung Süden. Über Stationen in Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meersburg am Bodensee landet er schließlich in der Schweiz. In den meisten deutschen Städten hat er zufällige Begegnungen mit alten Bekannten, die wie er ununterbrochen und im Rauschzustand von einer Party oder Bar zur nächsten hetzen, rauchen, sich exzessiv betrinken und Drogen konsumieren. Es sind ähnlich verlorene Figuren, wie reiche Erb:innen und andere Mitglieder einer ‚dekadenten‘ Jugendkultur. Die Interaktionen mit diesen sind flüchtig, geprägt von belanglosen Gesprächen. Der rastlose Ich-Erzähler verlässt die Reiseorte fluchtartig und verweilt meist nicht länger als einen Tag an einem Ort. Die Chronologie der erzählten Handlung wird zwischenzeitlich von Kindheitserinnerungen – etwa an sein Aufwachsen in der Internatsschule Salem –, von ihm spontan in den Sinn kommenden Assoziationen oder von imaginierten Zukunftsvisionen unterbrochen. Der Erzähler führt ein desillusioniertes Leben, scheinbar ohne Job oder tiefere zwischenmenschliche Bindungen und fühlt sich in Deutschland, in diesem „grauenhaften Nazi-Leben” (Kracht 2018, S. 72) nicht wohl. Er sehnt sich nach einer aktiven Teilhabe: „Das ist natürlich etwas schwierig zu erklären, aber es ist ein bißchen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden angesichts des Lebens, das neben einem so abläuft” (ebd., S. 143). An seinem Freund Rollo, der eine Geburtstagsparty am Bodensee veranstaltet, werden die Konsequenzen des Lebensstils der Figuren erkennbar: In Zürich liest der Erzähler in einer Zeitung vom Tod des Millionärssohns, zurückgeführt auf eine Überdosis an Valium und Alkoholkonsum. Der Roman endet nach einem Friedhofsbesuch damit, dass der Erzähler sich in einem Boot über den Zürichsee rudern lässt und der Mitte des Sees entgegensieht.

Einordnung


Der Debütroman des Schweizer Autors und Journalisten Christian Kracht wird heute oft als deutschsprachige „Initialzündung” für eine ‚Neue Popliteratur’ angesehen (Larch 2013, S. 12). Nach seiner Publikation wurde er zunächst jedoch verrissen. Wie es allgemein häufig in der Popliteratur-Welle der 90er-Jahre vorkam, sahen Kritiker:innen auch in diesem Werk bloß „das Propagieren einer konsumorientierten, arroganten, apolitischen Haltung ohne jeglichen inhaltlichen Tiefgang” (ebd., S. 67), während Faserland mittlerweile längst als Kultbuch gilt (ebd., S. 68) und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. „Christian Kracht ist jener Autor der deutschsprachigen, vielleicht auch überhaupt der westlichen Gegenwartsliteratur, der das erzählerische Experiment am weitesten und am radikalsten vorangetrieben hat” (Jahraus 2009, S. 13).
Faserland wird häufig als Roman über die scheiternde Suche nach Identität und Sinn in einer postmodernen Gesellschaft gelesen (z.B. Larch 2013, S. 151), der die Leere und Entfremdung einer Generation im Deutschland der Nachwendezeit thematisiert, die sich in einem Weltbild des Konsums, der Oberflächlichkeit und des Hedonismus verliert. Als Identitätsträger in der komplexen Welt des Massenkonsums dienen die zahlreich genannten Markennamen und popkulturellen Referenzen im Roman (ebd., S. 69). Für das Subjekt wird die äußere Welt zur „primären sinnstiftenden Kraft der Identitätsbildung“ (ebd.). Ein Beispiel hierfür stellt die Barbourjacke als Leitmotiv im Roman dar. Auch andere Menschen beschreibt und charakterisiert der Erzähler v.a. über die getragenen Bekleidungsmarken, d.h. darüber, was deren Oberfläche preisgibt (ebd., S. 80).
Wichtig scheint dem Erzähler auch die klare Abgrenzung von der vorangegangenen Generation, denn die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands stellt für ihn einen nicht zu überwindenden Einbruch dar (ebd., S. 94, 97). Der Roman wird daher auch als „späte Bestandsaufnahme der psychischen Verheerungen, die die deutschen Verbrechen in den Seelen bewirkt haben, in den Seelen der Generationen” (Kehlmann 2017, S. 20) interpretiert. Rege diskutiert wird von Rezipient:innen besonders auch das offene Ende, primär die Frage, ob der Roman einen Suizid des Ich-Erzählers nahelegt.
Stilistisch ist Krachts Roman geprägt von einer kühlen, distanzierten und stark ironischen Sprache. Außerdem ist ein tief melancholischer Ton charakteristisch, genauso wie die hervorgerufene Ambivalenz zwischen Ärgernis und Komik bei der Rezeption, besonders durch die ständigen Provokationen von Seiten des Erzählers (ebd., S. 20f.). Als innovatives Merkmal des Schreibens von Kracht gilt sein Ausprobieren verschiedener Stilregister (Hagestedt 2009, S. 143). Dadurch, dass er das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählens verwendet und man als Leser:in ausschließlich an die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten gebunden ist, entstehen unzählige Leerstellen und Widersprüche der im Roman dargestellten Realität. „Bei jeder neuen ‚Faserland’-Lektüre wird man Kleinigkeiten finden, die man vorher übersehen hat. [...]. Einst Provokation, heute Klassiker – und doch immer noch eine Provokation wie am ersten Tag” (Kehlmann 2017, S. 23).

Literaturangaben


  • Hagestedt, Lutz: Die absolute Freiheit und der Schrecken. Erinnerungskultur und Gegenwartsbezug bei Christian Kracht. In: Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Hg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Köln 2009, S. 131–149.
  • Jahraus, Oliver: Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente. In: Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Hg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Köln 2009, S. 13–23.
  • Kehlmann, Daniel: Bord-Treff und Neckarauen. Über Faserland. In: Christian Kracht. Hg. von Christoph Kleinschmidt (Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, H. 216). München 2017, S. 20–23.
  • Kracht, Christian: Faserland. Roman. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2018.
  • Larch, Anja: Ich, zerfasert. Postmoderne Pop-Identitäten in Christian Krachts Roman Faserland. Marburg 2013.


Ausgaben


Kracht, Christian: Faserland. Roman. 13. Aufl. Frankfurt a. M. 2025 (Fischer Taschenbuch).

Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Hanyin, Zhang: Der Nomade in der Fluchtlinie. Das „Werden“ in Christian Krachts Roman Faserland. In: Literaturstraße 22 (2021), H. 1, S. 169–184.
  • Lehmann, Christine: Fantasien der Auslöschung. Christian Krachts Romane Faserland und 1979. In: Pandaemonium Germanicum. Revista de Estudos Germanísticos (2005), H. 9, S. 255–273.
  • Obst, Helmut: Der deutsche Pop-Roman und die Postmoderne seit 1990. Dargestellt an Erzählprosa von Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und Benjamin Lebert. Saarbrücken 2008.
  • Schumann, Andreas: „das ist schon ziemlich charmant”. Christian Krachts Werke im literarhistorischen Geflecht der Gegenwart. In: Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Hg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Köln 2009, S. 150–164.
  • Unterhuber, Tobias: Kritik der Oberfläche. Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht. Würzburg 2019.


Lesedauer


Individuelle Lesezeit: 3 Stunden, 45 Minuten (Fischer-Taschenbuch-Ausgabe 2018, 165 Seiten)

Leseprobe


„Ab da höre ich nicht mehr zu, weil mir plötzlich dieser Geruch der Holzbohlen und des Meeres in die Nase steigt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlen durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Duft ausgeströmt haben. Das war ein freundlicher Geruch, irgendwie verheißungsvoll und, na ja, warm. Jetzt riecht es wieder so, und ich merke, wie ich fast ein bißchen heulen muß, also zünde ich mir schnell eine Zigarette an und fahre mir mit dem Ärmel meines Barbours über die Stirn.“

(Zitat: Christian Kracht: Faserland. Roman. 13. Aufl. Frankfurt a. M. 2025 (Fischer Taschenbuch), S. 16. Der Textausschnitt stammt aus dem Beginn des Romans und ist auf der Verlagsseite als Leseprobe frei zugänglich.)

Was finde ich an dem Text interessant?


Interessant erscheint mir an Faserland besonders die sehr direkte, oft ironische Ausdrucksweise sowie die scheinbare Zufälligkeit und Spontanität, mit der der Erzähler seine augenblicklichen Gedanken unmittelbar mitteilt. Durch die einfache Sprache ist der Roman leicht zu lesen. Außerdem fällt die sehr hohe emotionale Distanz des Erzählens auf. Emotionen werden größtenteils ausgespart, auch etwa als der Ich-Erzähler vom Tod des Freundes erfährt, wodurch eine existenzielle innere Leere widergespiegelt wird. Die emotionale Bewertung wird somit allein dem:der Leser:in überlassen, Fragen wie die, ob der Erzähler Schuldgefühle verspürt, bleiben gänzlich offen. Diese im Roman beibehaltene Gleichgültigkeit des Erzählens, die als implizite Kritik an der gegenwärtigen Welt gelesen werden kann, trifft gekonnt den Nerv der Zeit.

Sidney Lazerus (M.A.-Studierende)