Christa Wolf: Kassandra (1983). Erzählung

Inhalt


In der Erzählung werden aus der Sicht Kassandras, der Seherin und Tochter des trojanischen Königspaares Priamos und Hekabe, Teile der Geschichte des Trojanischen Krieges kommentierend geschildert. Kassandra befindet sich nach dem Sieg der Griechen über Troja mit anderen Gefangenen auf dem Beutewagen des Agamemnon auf dem Weg nach Mykene. Sie weiß, dass sie dem Tod entgegengeht, dass die Frau des Agamemnon Klytaimnestra sie nicht verschonen wird und auch die Götter gleichgültig gegenüber den Irdischen sind: „Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt” (Wolf 2024, S. 7). Dann fängt sie an zu erzählen, lässt ihr Leben noch einmal Revue passieren und die Leser:innen in ihre Erinnerungen eintauchen. Als junge Frau bekommt Kassandra von dem Gott Apollon die Gabe verliehen, die Zukunft zu prophezeien. Da Kassandra sich jedoch weigert, dem Gott beizuschlafen, bestraft dieser sie mit dem Schicksal, dass niemand ihren Worten Glauben schenken wird. Kassandra lebt fortan ein Leben als Priesterin in Troja und sagt auch die Zerstörung Trojas voraus, was ihr doch niemand glaubt. Im Nachhinein fragt sie sich, warum sie die Sehergabe unbedingt wollte, sieht sie vielmehr als Fluch. Sie erzählt von ihren Gefühlen, von dem allmählichen Verlust ihres Glaubens angesichts schrecklicher Taten wie Mord und Vergewaltigung, vom Krieg und Verfall Trojas, von ihrer Liebe zu Aineias und vom Verlust geliebter Menschen. Kassandra entschied sich bewusst dafür, nicht mit Aineias zu flüchten und so ihr Leben zu retten, sondern zu bleiben. Noch im Angesicht des ihr bevorstehenden Todes bemüht sie sich um Autonomie, indem sie ihre Handlungen im Rückblick eingehend reflektiert.

Einordnung


Die DDR-Autorin schildert in ihren vier Vorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung, die sie 1982 im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen hielt und die aufgrund der hohen Besucherzahlen zu einem „Massenereignis” (Hilzinger 2000, S. 435) wurden, wie es zur Ausbildung der Idee und Figur der Kassandra kam, und gibt einen Einblick in ihren persönlichen Arbeitsprozess. Aufgrund eines Zufalls verpasste Wolf 1980 einen Flug nach Griechenland und begann in einem Berliner Hotel das Werk Orestie des Aischylos zu lesen (Wolf 2000, S. 14f.). Sogleich ist sie von einer Figur fasziniert: „Ich konnte mir noch zusehen, wie ein panisches Entzücken sich in mir ausbreitete [...]. Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen, sie, selbst Objekt fremder Zwecke, besetzte mich. [...] Dreitausend Jahre – weggeschmolzen. So bewährte sich die Sehergabe, die ihr der Gott verlieh, nur schwand sein Richtspruch, daß ihr niemand glauben werde. Glaubwürdig war sie mir in einem andern Sinn: Mir schien, daß sie als einzige in diesem Stück sich selber kannte” (ebd., S. 15f.). Bei Aischylos aber nimmt Wolf eine starke Voreingenommenheit gegenüber den Frauenfiguren wahr, der sie als hassvoll und eifersüchtig darstellt (ebd., S. 55). Wolf dagegen entwirft ihre Kassandra-Gestalt als eine nicht-angepasste und bis zum Ende um ihre Unabhängigkeit kämpfende Frau, für die sie selbst mit ihrem Leben bezahlt und den Tod in der patriarchalen Gesellschaft als einzige Alternative sieht (ebd., S. 123f.). Wolf untersucht in ihren Vorlesungen auch die Frage, inwieweit es weibliches Schreiben gibt, und meint, dass Frauen eine andere Wirklichkeit erleben als Männer, etwa, da sie nicht zu den Herrschenden, sondern zu den Beherrschten gehören und um Autonomie ringen (ebd., S. 146).
Christa Wolf arbeitete bis 1959 zunächst als Literaturkritikerin, bevor sie die Entwicklung zur Prosaautorin vollzog (Hilzinger 1986, S. 6f.) und 1961 mit ihrer Moskauer Novelle ihr Debüt veröffentlichte. Sie sprach von einer Schreibhemmung und Selbstzensur, die sie zuerst am Veröffentlichen eigener Prosa hinderte (ebd., S. 8). Die politisch engagierte Schriftstellerin vertrat eine offen sozialistische, marxistisch geprägte und antifaschistische Position (ebd., S. 6, 8) und hatte die „Hoffnung auf eine kollektive Bewältigung der faschistischen Vergangenheit” (ebd., S. 8), die ihre Generation stark geprägt hat. Auch ihr Werk spiegelt diese Einflüsse wider, so kann bei Wolf von einer „Erinnerungs-Prosa” (ebd., S. 8f.) gesprochen werden. Seit etwa 1967 zeichnet sich ihre Prosa durch eine neue Form des Erzählens, das essayistische Erzählen, aus, „in dessen Mittelpunkt das nachdenkende und sich erinnernde Individuum steht” (ebd., S. 28). Wolf gelangt zu einem für die Literatur der DDR neuen erzählerischen Selbstverständnis mit der zentralen Kategorie der Erfahrung (ebd., S. 28, 48). Nach ihr spiegelt Literatur nicht die objektive Realität, sondern vielmehr die subjektive Erfahrung dieser (ebd., S. 50). In Wolfs Werken, wie z.B. in ihrem Roman Nachdenken über Christa T. (1968), spielt das Erinnern eine zentrale Rolle, was auch in Kassandra schon durch die erzählerische Form des inneren Monologs deutlich wird.
Die Erzählung weist weiterhin eine hohe Aktualität auf. Die Autorin setzt sie explizit mit der Gegenwart in Bezug. So schreibt sie die Erzählung zu einer Zeit, die ebenfalls von einer Art Endzeitstimmung geprägt ist, da die Bedrohung der Menschheit durch atomare Überrüstung akut ist (ebd., S. 107). Die Funktion von Literatur bestehe auch darin, Friedensforschung zu betreiben und nach alternativen Lebensformen zu suchen (ebd.). Auch Kassandra kann als Appell der Suche nach humanisierten Lebensentwürfen und Alternativen zum Fatalismus und zum abendländischen, patriarchalischen Denken gelesen werden (ebd., S. 131–133). Wolf erhielt zahlreiche Auszeichnungen für ihr Gesamtwerk.

Literaturangaben


  • Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung. 11. Aufl. Berlin 2024.
  • Wolf: Christa: Voraussetzungen einer Erzählung. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 2000.
  • Hilzinger, Sonja: Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption. In: Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 2000, S. 429–447.
  • Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Stuttgart 1986.


Ausgaben


Wolf, Christa: Kassandra. Erzählung. Mit einem Kommentar von Sonja Hilzinger. 4. Aufl. Berlin 2022. (Suhrkamp BasisBibliothek 121, Text und Kommentar).

Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Glau, Katherina: Christa Wolfs „Kassandra” und Aischylos’ „Orestie”. Zur Rezeption der griechischen Tragödie in der deutschen Literatur der Gegenwart. Heidelberg 1996.
  • Magenau, Jörg: Christa Wolf. Eine Biographie. Berlin 2002.
  • Maisch, Christine: Ein schmaler Streifen Zukunft. Christa Wolfs Erzählung „Kassandra". Zweite, verbesserte Aufl. Würzburg 1990.
  • Opitz-Wiemers, Carola: Weibliche Deutung des Mythos – Zivilisationskritik. In: Christa Wolf-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt. Stuttgart 2016, S. 164–193.
  • Christa-Wolf-Gesellschaft


Lesedauer


  • Individuelle Lesezeit: ca. 5 Stunden (Suhrkamp-Ausgabe 2024, 178 Seiten)
  • Hörbuch: Ungekürzte Autorinnenlesung, gesprochen von Christa Wolf: 6 Stunden, 19 Minuten


Leseprobe


„Ich mache die Schmerzprobe. Wie der Arzt, um zu prüfen, ob es abgestorben ist, ein Glied ansticht, so stech ich mein Gedächtnis an. Vielleicht daß der Schmerz stirbt, eh wir sterben. Das, wär es so, müßte man weitersagen, doch wem? Hier spricht keiner meine Sprache, der nicht mit mir stirbt. Ich mache die Schmerzprobe und denk an die Abschiede, jeder war anders. Am Ende erkannten wir uns daran, ob wir wußten, daß es an den Abschied ging.“

(Zitat: Christa Wolf: Kassandra. Erzählung. 11. Aufl. Berlin 2024, S. 10f. Der Textausschnitt stammt aus dem Beginn der Erzählung und ist auf der Verlagsseite als Leseprobe frei zugänglich.)

Was finde ich an dem Text interessant?


Besonders beeindruckend an der Erzählung finde ich die starke Protagonistin, die sich nicht scheut, ihr schweres Leben, das zwischen göttlichem Schicksal und dem Kampf um Selbstbestimmung changiert, und auch sich selbst in der Retrospektive feinsinnig und scharf zu analysieren und zu erforschen. Als Leser:in bekommt man die bekannten Ereignisse der Geschichte Trojas aus der griechischen Mythologie, die stark vom Heroenkult geprägt ist, einmal aus einer weiblichen, feministischen und kritischen Denkart nahe gebracht, welche Perspektivverschiebung sehr bereichernd ist. Die Autorin ermöglicht so eine Identifikation und ein Einfühlen in die mythologische Frauenfigur, versucht gewissermaßen, eine bisher verdrängte weibliche Stimme in der Geschichte sichtbar zu machen.

Sidney Lazerus (M.A.-Studierende)