Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (1956). Drama

Inhalt


Der erste Teil des Dramas zeigt die verfallene wirtschaftliche und moralische Lage der Kleinstadt Güllen, in der Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit vorherrschen. Im Zentrum steht die Rückkehr der Multimilliardärin Claire Zachanassian, die einst aus der Stadt vertrieben wurde, nachdem sie ungewollt schwanger wurde und ihr Liebhaber, der junge Alfred Ill, vor Gericht ihre Glaubwürdigkeit durch gekaufte Zeugen untergraben ließ. Während Claire zu Beginn zunächst versöhnlich auftritt, offenbart sie bald ihre wahre Absicht: Sie bietet der Stadt eine Milliarde, allerdings unter der Bedingung, dass Alfred getötet wird. Dies bildet die Ausgangslage, aus der sich ein moralischer Verfall entwickelt: Die Güllener lehnen das Angebot erst entrüstet ab, doch nach und nach beginnt sich ihr Verhalten zu verändern. Im weiteren Verlauf des Dramas steigt der Druck auf Alfred Ill, während die Güllener zunehmend Wohlstandsgüter anschaffen und ihre Moral einem kollektiven Selbstbetrug weicht. Claire Zachanassians Rachefantasie wird immer präsenter, während Alfred sich seinem Schicksal fügen muss und am Ende tatsächlich dem ‚Volksgericht‘ zum Opfer fällt. Dürrenmatt zeigt in dieser tragischen Komödie, wie leicht sich Menschen durch materielle Verlockungen manipulieren lassen und wie Rache sich in eine perfide Form von Gerechtigkeit verwandeln kann.

Einordnung


Der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Dürrenmatt schrieb in einer Zeit, die stark von der Auseinandersetzung mit den moralischen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt war (insbesondere dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und dem aufziehenden Kalten Krieg). Seine Werke verhandeln daher oft die Frage nach individueller Verantwortung in einem von Systemen bestimmten Weltgeschehen. So wird auch Der Besuch der alten Dame zu einem Ausdruck der Nachkriegsgesellschaft, die durch Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus geprägt und erschüttert war und sich gleichzeitig mit Fragen von Schuld, Verantwortung und kollektivem Versagen konfrontiert sieht (vgl. Fischer 2020:107).
Stilistisch greift Dürrenmatt häufig auf Mittel der Groteske, der Überzeichnung und der Ironie zurück. (vgl. Reed 1961, S. 9f.). In Der Besuch der alten Dame wird dies unter anderem in den absurden Auftritten Claires deutlich, die fast schon operettenhaft in die Handlung eingreift und dennoch als ernsthafte moralische Instanz fungiert. Gleichzeitig zeigt Dürrenmatt eine Gesellschaft, die aus wirtschaftlicher Not heraus ihre moralischen Prinzipien opfert. Der Schweizer Autor nutzt das Spannungsverhältnis zwischen Komik und Abgrund, in dem häufig moralische Fragen und gesellschaftliche Verantwortung mit einem offenen Ende verknüpft werden. Auf diese Weise erneuert er die klassische Tradition des Dramas und versucht zugleich, gesellschaftliche Missstände aufzudecken.

Literaturangaben


  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame. Tragische Komödie. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes 1998.
  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Diogenes Hörbuch. 2015.
  • Fischer, Saskia: „Denn sie wissen nicht, was sie tun?“ Schuldverdrängung und Schuldbewusstsein in Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame. In: KulturPoetik 20 (2020), S. 91–107.
  • Reed, Eugene E.: Dürrenmatt’s „Der Besuch der alten Dame“: A study in the grotesque. In: Monatshefte University of Wisconsin 53 (1961), S. 9–14.


Ausgaben


  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame. Tragische Komödie. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes 1998. (SUB Standort: LS1, Signatur: HS 600 Dür:z = ZA 38458:250,5)
  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame. Bd. 5 Werkausgabe. Zürich: Verlag der Arche 1980. (SDP-Bibliothek: Signatur: X-DU 20 1/2:5)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


  • Individuelle Lesezeit: ca. 2–3 Stunden (ca. 160 Seiten)
  • Hörspiel (Diogenes Hörbuch): 1 Stunde und 44 Minuten


Was finden wir an dem Text interessant?


Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame ist ein ebenso unterhaltsames wie tiefgründiges Drama, das bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Vor allem durch die zeitlose zentrale Frage „Hat Moral einen Preis?“ und die damit verbundene Entlarvung der Doppelmoral der Gesellschaft führt Dürrenmatt den Leser:innen damals wie heute die Verführbarkeit durch materielle Sicherheit vor Augen. Das moralische Dilemma wird dabei treffend mit Dürrenmatts düsterem Humor ergänzt, wodurch das Werk nicht nur erschüttert, sondern auch zum Lachen anregt und dabei umso eindrücklicher kritisiert. Darüber hinaus stellt allerdings auch die Hauptfigur Claire Zachanassian einen interessanten Aspekt in Der Besuch der alten Dame dar: Als starke Frauenfigur, die sich gegen eine von patriarchalen Strukturen geprägte Welt behauptet, steht sie selbst für ihr Recht auf Gerechtigkeit ein, sodass ihrem Charakter auch in heutigen Debatten um Gleichberechtigung, Selbstermächtigung und den Umgang mit weiblicher Ohnmacht in männlich dominierten Ordnungen besondere Aktualität zukommt.

Nele Ellmer (M.Edu.-Studierende) und Charlotte Schlimme (M.A.-Studierende)