Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901). Roman
Inhalt
Der Roman zeichnet über vier Generationen hinweg die Entwicklung und den allmählichen Niedergang der großbürgerlichen Kaufmannsfamilie Buddenbrook nach. Ausgehend von einem Höhepunkt ökonomischer und gesellschaftlicher Prosperität beginnt die Handlung 1835 mit dem Einzug der ersten Familienmitglieder in ihr neues Domizil, das als Zeichen ihres sozialen Aufstiegs gilt. Das Geschehen entfaltet sich in einer klar strukturierten chronologischen und räumlichen Ordnung und ist geprägt von bedeutenden Lebensereignissen wie Geburt, Eheschließung und Tod. Im Verlauf wird deutlich, dass äußerer Reichtum zunehmend einer schwindenden inneren Kraft gegenübersteht und der Einfluss der Familie auf das städtische Leben allmählich zurückgeht. Diese Entwicklung erreicht schließlich ihren Höhepunkt im Verschwinden der männlichen Linie, sodass die Familie in der patriarchalen Gesellschaft keine direkten Erben mehr stellen kann. Zwar bleibt die weibliche Linie erhalten, sie wird jedoch durch Heiraten in andere Familien eingebunden und führt so das ursprüngliche Familienerbe nur indirekt fort. So zeigen die individuellen Lebenswege ausgewählter Familienmitglieder exemplarisch gesellschaftliche Veränderungen sowie den schrittweisen Verfall der Familie.
Einordnung
Thomas Manns erster Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie, an dem er von 1897 bis 1900 arbeitete und der 1901 im S. Fischer Verlag erschien, enthält autobiografische Züge und wurde in der Begründung für den Nobelpreis für Literatur, den Mann 1929 erhielt, besonders hervorgehoben.
Der Roman greift zentrale Motive der literarischen Strömung der Décadence auf. Diese thematisiert kulturellen und moralischen Niedergang, verbunden mit Ästhetik und ausgeprägter Sensibilität (vgl. Dierks 2002, 138). In Buddenbrooks zeigt sich dies vor allem im Kontrast zwischen dem leistungsorientierten Bürgertum und der künstlerisch veranlagten Außenseiterrolle. Statt robuster Tatkraft treten psychische und physische Instabilität in den Vordergrund, Motive, die als charakteristisch für die Décadence gelten. Damit wird der Roman zu einem Beispiel des ‚europäischen Nervenromans‘ (vgl. Dierks 2002), der die Orientierungslosigkeit und innere Zerrissenheit an der Schwelle zur Moderne literarisch zum Ausdruck bringt.
Gleichzeitig markiert der Roman aufgrund seiner stilistischen Vielfalt einen literarischen Übergang vom Realismus zur Frühen Moderne. Zum einen vereint der Roman die literarischen Gattungen Entwicklungs-, Familien- sowie Gesellschaftsroman, zum anderen wandelt sich das Erzählverfahren von anfänglich dialogisch-dramatischer Darstellung in eine Darstellung, die sich zunehmend interner Fokalisierung bedient (vgl. Grawe 1988, 90).
Zudem adaptiert Thomas Mann erstmals Richard Wagners Leitmotivtechnik und überträgt sie in die literarische Erzählform. Wiederkehrende Elemente wie bestimmte Farben (etwa Blau und Gelb), bedeutungstragende Gegenstände (wie die Familienchronik) oder auffällige physiognomische Merkmale (beispielsweise die Hände und Zähne der männlichen Buddenbrooks) verknüpfen einzelne Szenen auf semantischer Ebene miteinander und schaffen eine durchgängige Struktur im Werk. Nach Keller (1988) bewegen sich diese Leitmotive zwischen Motiv, Allegorie und Symbol. Ihre Funktion liegt nicht vorrangig in der Figurenzeichnung, sondern in der „epischen Integration“ (ebd., 129): Sie erinnern an Vergangenes, spiegeln das Gegenwärtige und verweisen zugleich auf das zentrale Thema des Romans: den Verfall (vgl. Blödorn 2005).
Literaturangaben
- Blödorn, Andreas: Todessemantiken: Sinneswahrnehmung und Narration im Wandel literarischer Epistemologie des 19. Jahrhunderts. 2015.
- Dierks, Manfred: Buddenbrooks als europäischer Nervenroman. In: TMJb 15 (2002), S. 13–151.
- Grawe, Christian: Struktur und Erzählform. In: Moulden, Ken u. von Wilpert, Gero (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 69–107.
- Keller, Ernst: Leitmotive und Symbole. In: Moulden, Ken u. von Wilpert, Gero (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 129–143.
Ausgaben
- Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Hg. und textkritisch durchges. v. Eckhard Heftrich, unter Mitarb. v. Stephan Stachorski und Herbert Lehnert. Frankfurt a. M.: S Fischer 2002. (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001 ff., Bd. 1.1) (SDP-Bibliothek, Signatur: W-MA 50 1/8:1,1; SUB: Lesesaal 1, Signatur: HS 600 ManT:z = FA 24843:1,1)
- Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2025.
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Blödorn, Andreas; Marx, Friedhelm (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2015.
- Max, Kathrin: Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in „Buddenbrooks“. Frankfurt am Main 2008.
- Robles, Ingeborg: Unbewältigte Wirklichkeit. Familie, Sprache, Zeit als mythische Strukturen im Frühwerk Thomas Manns. Bielefeld 2003.
- Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann und Wagner. Zur Funktion des Leitmotivs in Der Ring des Nibelungen und Buddenbrooks. In: Steven Paul Scher (Hg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984, S. 326–347.
Lesedauer
Hörbuch, ungekürzte Lesung mit Gert Westphal: 27 Stunden, 47 Minuten
Ein allgemeiner Stillstand des Gespräches trat ein und dauerte eine halbe Minute. Man blickte in seinen Teller und gedachte dieser ehemals so glänzenden Familie, die das Haus erbaut und bewohnt hatte und die verarmt, heruntergekommen, davongezogen war …
Leseprobe
"»Tja, traurig«, sagte der Makler Grätjens; »wenn man bedenkt, welcher Wahnsinn den Ruin herbeiführte … Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht diesen Geelmaack zum Kompagnon genommen hätte! Ich habe, weiß Gott, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der anfing, zu wirtschaften. Ich weiß es aus bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der hinter Ratenkamps Rücken spekuliert und Wechsel hier und Accepte dort auf Namen der Firma gegeben hat … Schließlich war es aus … Da waren die Banken misstrauisch, da fehlte die Deckung … Sie haben keine Vorstellung … Wer hat auch nur das Lager kontrolliert? Geelmaack vielleicht? Sie haben da wie die Ratten gehaust, Jahr aus, Jahr ein! Aber Ratenkamp kümmerte sich um nichts …«
»Er war wie gelähmt«, sagte der Konsul. Sein Gesicht hatte einen düsteren und verschlossenen Ausdruck angenommen. Er bewegte, vornüber gebeugt, den Löffel in seiner Suppe und ließ dann und wann einen kurzen Blick seiner kleinen, runden, tiefliegenden Augen zum oberen Tischende hinaufschweifen.
»Er ging wie unter einem Drucke einher, und ich glaube, man kann diesen Druck begreifen. Was veranlasste ihn, sich mit Geelmaack zu verbinden, der bitterwenig Kapital hinzubrachte, und dem niemand den besten Leumund machte? Er muss das Bedürfnis empfunden haben, einen Teil der furchtbaren Verantwortlichkeit auf irgend jemanden abzuwälzen, weil er fühlte, dass es unaufhaltsam zu Ende ging … Diese Firma hatte abgewirtschaftet, diese alte Familie war passée. Wilhelm Geelmaack hat sicherlich nur den letzten Anstoß zum Ruin gegeben …«"
(Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt a.M. 2025, S. 25f.; Zitat aus dem frei verfügbaren PDF des Fischer Verlags)
Was finde ich an dem Text interessant?
Was ich an Buddenbrooks besonders interessant finde, ist zum einen, wie Thomas Mann philosophische Gedanken literarisch verarbeitet, etwa Arthur Schopenhauers Idee vom unausweichlichen Verfall, die sich im Niedergang der Familie Buddenbrook zeigt.
Zum anderen beeindruckt mich, wie er Richard Wagners musikalische Leitmotivtechnik auf die Literatur überträgt: Farben, Stimmungen und Bilder kehren im Verlauf des Romans immer wieder und verbinden so die Figuren und ihr jeweiliges Handeln über mehrere Generationen hinweg, sodass ihre Zeitlosigkeit zu Tage tritt.
Maximilian Menzel (M.A.-Studierender)