Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779). Drama

Inhalt


Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise ist ein Schlüsselwerk der deutschen Aufklärung, das in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge spielt. Im Mittelpunkt steht der jüdische Kaufmann Nathan, der als Inbegriff von Weisheit, Vernunft und Humanität gestaltet ist. Nachdem seine Pflegetochter Recha aus einem brennenden Haus gerettet wird, sucht Nathan den unbekannten Retter auf und erkennt in dem jungen Tempelherrn zunächst den Vertreter einer feindlichen Religion. Doch im Verlauf der Begegnungen zwischen Juden, Christen und Muslimen entsteht ein Geflecht von Dialogen, das die Vorurteile der Figuren zunehmend relativiert (vgl. z.B. Lessing 2021:56ff. [2. Aufzug, 5. Auftritt]). Eine zentrale Szene bildet die berühmte Ringparabel, mit der Nathan auf die Frage des muslimischen Herrschers Saladin nach der ‚wahren Religion‘ antwortet: Drei identische Ringe, von einem Vater an seine Söhne vererbt, stehen für die drei monotheistischen Glaubensrichtungen. Da keiner der Söhne beweisen kann, den echten Ring zu besitzen, wird die Wahrheit des Glaubens allein an der moralischen Lebensführung gemessen. Damit formuliert Nathan ein Gleichnis, das den Anspruch exklusiver religiöser Wahrheit in Frage stellt und an die Verantwortung jedes Einzelnen appelliert, ganz unabhängig ihrer Religion (vgl. ebd.:85ff. [3. Aufzug, 7. Auftritt]). Die Handlung findet ihre Auflösung in einer doppelten Enthüllung: Recha ist nicht Nathans leibliche Tochter, sondern die Schwester des Tempelherrn und eine Nichte Saladins. Damit werden die zuvor als unüberwindbar dargestellten Unterschiede zwischen Religionen und Ständen durch verwandtschaftliche Bande aufgehoben. Der Schluss des Dramas bekräftigt so die Utopie eines friedlichen Miteinanders, das auf Toleranz, Vernunft und Menschlichkeit gründet (vgl. ebd.:160ff. [5. Aufzug, letzter Auftritt]). Nathan der Weise verbindet die Struktur eines klassischen Dramas mit einem aufklärerischen Ideendiskurs. Es entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der die traditionellen Grenzen zwischen Religionen und Nationen ihre trennende Macht verlieren, und fordert den Zuschauer auf, den Wert menschlichen Handelns über alle dogmatischen Unterschiede zu stellen.

Einordnung


Gotthold Ephraim Lessing zählt zu den prägendsten Autoren der deutschen Aufklärung. Mit dem ‚dramatischen Gedicht‘ Nathan der Weise gelingt ihm ein Schlüsselwerk dieser Epoche: Als Personen-Drama entfaltet es mithilfe des Handlungsträgers Nathan zentrale Leitgedanken wie Vernunft, Humanität und religiöse Gleichwertigkeit, die in der berühmten Ringparabel exemplarisch verdichtet werden (vgl. Pelster 2017:51). Lessing reagiert mit seinem Stück und dessen Bezeichnung als ‚dramatisches Gedicht‘ auf den Konflikt mit der orthodox-lutherischen Theologie und umgeht gleichzeitig die Einschränkung durch die herrschende Zensur, die Gedichte nicht kontrollieren durfte (vgl. ebd.:47). Historisch ist das dramatische Gedicht in die Spätaufklärung eingebettet, die von Fragen nach religiöser Freiheit und Bürgerrechten geprägt war. Der Schauplatz Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge verleiht der Handlung außerdem einen universalen Rahmen, in dem das Spannungsfeld zwischen religiösem Fanatismus und Verständigung inszeniert wird (vgl. ebd.:48). Lessings Vision einer von Vernunft geleiteten Humanität erweist sich angesichts der engen Verbindung von Kirche und Staat als weit über seine Zeit hinaus (vgl. ebd.:11). Lessings Nathan der Weise markiert damit einen Höhepunkt des aufklärerischen Theaters, das nicht allein unterhalten, sondern erziehen und zur kritischen Reflexion anregen soll. Das Drama verbindet historische Elemente und zeitlose Fragen, indem es das religiös und politisch aufgeladene Jerusalem der Kreuzzüge zum Spiegel der Konflikte des 18. Jahrhunderts macht. Die Verschränkung von Handlung und Reflexion, von poetischer Form und philosophischem Gehalt, macht den Text zu einem exemplarischen Drama, das zugleich die Grenzen traditioneller Gattungen überschreitet. Gerade in dieser Verbindung von Kunst und aufklärerischem Programm liegt die bleibende Bedeutung des Werkes, das weit über seine Entstehungszeit hinaus zum Symbol für Toleranz und Humanität geworden ist.

Literaturangaben


  • Pelster, Theodor: G.E. Lessing: Nathan der Weise. Reclam Lektüreschlüssel XL. Ditzingen: Reclam 2017.
  • Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Herausgegeben von Kai Bremer und Valerie Hantzsche. Ditzingen 2021.


Ausgaben


  • Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Herausgegeben von Kai Bremer und Valerie Hantzsche. Ditzingen 2021. (Reclam Studienausgabe, Nr. 19142) (SDP-Bibliothek, Signatur: S-LE 80 4/91 Mag Reclam)
  • Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Kritisch herausgegeben von Bodo Plachta. Stuttgart 2023. (Stuttgarter Studienausgaben, Band 5) (SDP-Bibliothek, Signatur: S-LE 80 4/65)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit

  • Hans Sigl: 3 Stunden und 42 Minuten (Reclam Hörbuch)
  • Jürgen Fritsche: 5 Stunden und 3 Minuten


Leseprobe


„SALADIN.
Wie? das soll
Die Antwort sein auf meine Frage? ...
NATHAN.
Soll
Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe,
Mir nicht getrau zu unterscheiden, die
Der Vater in der Absicht machen ließ,
Damit sie nicht zu unterscheiden wären.
SALADIN.
Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte,
Daß die Religionen, die ich dir
Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.
Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank!
NATHAN.
Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. –
Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! – Und
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? – Nicht? –
Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war? –
Wie kann ich meinen Vätern weniger,
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –
Kann ich von dir verlangen, daß du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? –
SALADIN.
(Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht.
Ich muß verstummen.)“

(3. Aufzug, 7. Auftritt, Zitat: TextGrid Repository (2012). Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. TextGrid Digitale Bibliothek)

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Lessings Drama Nathan der Weise ist ein zeitloses Plädoyer für Toleranz, Vernunft und Menschlichkeit und damit für Werte, die heute angesichts gesellschaftlicher Spaltung und religiöser Konflikte aktueller denn je erscheinen: Mit der berühmten Ringparabel, die das Herzstück des Dramas bildet, wird dazu aufgefordert, keine Religion als die einzig wahre zu betrachten, sondern allen mit gleichem Respekt zu begegnen. Obwohl das Drama zur Zeit der Kreuzzüge spielt, verhandelt es Themen, die bis in die Gegenwart reichen, so z.B. religiöse Vorurteile, kulturelle Differenzen und die Frage nach einem friedlichen Miteinander. In einer Welt, die zunehmend von Abgrenzung und Intoleranz geprägt ist, erinnert Nathan der Weise eindrücklich daran, dass gegenseitige Anerkennung und aufklärerisches Denken zentrale Grundlagen für eine offene Gesellschaft bilden.

Charlotte Schlimme (M.A.-Studierende)