Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm (1767). Drama

Inhalt


In Gotthold Ephraim Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück steht die Beziehung zwischen dem preußischen Major Tellheim und der Titelheldin im Zentrum, die nach den Wirren des Siebenjährigen Krieges auf eine harte Probe gestellt wird. Tellheim, der unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen wurde und nun verarmt ist, empfindet seine gesellschaftliche Stellung als so beschädigt, dass er Minna nicht mehr heiraten zu dürfen glaubt (vgl. Lessing 2016:46ff. [2. Aufzug, 9. Auftritt]). Von Stolz und Pflichtbewusstsein geleitet, weist er sie daher zurück, obwohl seine Gefühle unverändert bleiben. Minna aber durchschaut die Zerrissenheit des Geliebten und entwirft ein listiges Täuschungsmanöver: Sie behauptet, selbst alles verloren zu haben, um Tellheim zu prüfen und ihm seine eigene Widersprüchlichkeit vor Augen zu führen. Der Major zeigt sich sofort bereit, sie trotz ihres vermeintlichen Unglücks zu heiraten, wodurch seine aufrichtige Zuneigung sichtbar wird (vgl. ebd.:108ff. [5. Aufzug, 5. Auftritt]). Erst als die Nachricht von seiner Rehabilitierung und der Rückgabe seiner Gelder eintrifft, löst sich die Krise endgültig, und das Paar kann in eine gemeinsame Zukunft blicken (vgl. ebd.:123ff. [5. Aufzug, 12. Auftritt]).
Lessings Stück vereint Komik und gesellschaftskritische Reflexion, indem es die Kollision von persönlichem Glücksanspruch und strengen Ehrvorstellungen vorführt. Im Mittelpunkt steht der Konflikt zwischen Stolz, militärischer Pflichtethik und menschlicher Nähe, der durch Minnas Klugheit und Handlungsfähigkeit überwunden wird. Damit präsentiert das Lustspiel nicht nur ein bürgerlich-aufklärerisches Ideal von Liebe und Vernunft, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Werten und Normen der Zeit.

Einordnung


Gotthold Ephraim Lessing gilt als einer der zentralen Vertreter der deutschen Aufklärung, dessen dramatisches Werk maßgeblich zur Ausbildung eines eigenständigen bürgerlichen Theaters beitrug. Mit dem Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, dessen erste Entwürfe 1763 entstanden und das 1767 am Hamburger Nationaltheater uraufgeführt wurde, schuf er ein Stück, das Goethe später als das „erst[e] deutschsprachige Stück, das einen zeitgeschichtlichen Stoff auf die Bühne brachte“ rühmte (Barber 2020:1). Damit markiert Minna von Barnhelm einen literaturgeschichtlichen Einschnitt, da es sowohl inhaltlich als auch formal den Anspruch der Aufklärung verwirklichte: Vernunft, Menschlichkeit und individuelle Integrität treten an die Stelle starrer höfischer Ehrvorstellungen.
Historisch ist das Lustspiel eng mit dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) verknüpft, dessen Nachwirkungen das Schicksal der Figuren bestimmen: Major Tellheim, der der Bestechlichkeit verdächtigt und daher unehrenhaft entlassen wurde, verkörpert die Problematik militärischer Ehrbegriffe, die im Stück konsequent hinterfragt werden. Lessing selbst stand einer Beschönigung des Krieges skeptisch gegenüber und bezeichnete die „Liebe des Vaterlandes“ sogar als eine „heroische Schwachheit“ (Brief an Gleim vom 14. Februar 1759, zit. nach Barber 2020:1). Damit unterscheidet er sich deutlich von vielen seiner Zeitgenossen, die im Krieg eine Quelle nationaler Begeisterung sahen. Minna von Barnhelm führt diese Haltung dramaturgisch vor, indem das Drama die übersteigerte Fixierung auf Ehre als hohl entlarvt: Minnas listige Intervention zeigt, dass persönliche Bindung, Liebe und Integrität höher zu bewerten sind als militärischer Stolz oder gesellschaftlicher Rang (vgl. Belgardt 1966:214f.).
Grundsätzlich thematisiert das Stück die gesellschaftlichen und moralischen Spannungen der Zeit, rückt aber zugleich die Werte einer neuen, bürgerlichen Existenz ins Zentrum: Liebe, Freundschaft, Mitgefühl und persönliche Integrität. Damit wird Minna von Barnhelm nicht nur zu einem Musterstück für das bürgerliche Nationaltheater, sondern auch zu einem Schlüsseltext der deutschen Aufklärung, der die Werte der alten feudalen Gesellschaft kritisch unterläuft und einen neuen Maßstab für menschliches Handeln setzt (vgl. Barber 2020:3).

Literaturangaben


  • Barber, Dieter: Lessing, Gotthold Ephraim. Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindlers Literatur Lexikon (KLL). Stuttgart 2020.
  • Belgardt, Raimund: Minna von Barnhelm als komischer Charakter. In: Monatshefte 68 (1966), S. 209–216.
  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Studienausgabe. Herausgegeben von Bodo Plachta. Ditzingen 2016.


Ausgaben


  • Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe. In zwölf Bänden. Herausgegeben von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985. Band 6 der Gesamtausgabe.
    (SDP-Bibliothek, Signatur VI-L 0.9:6 Ausleihbibliothek)
  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Studienausgabe. Herausgegeben von Bodo Plachta. Ditzingen 2016. (Reclam Studienausgabe, Nr. 19312)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


  • Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit Jürgen Fritsche: 3 Stunden und 31 Minuten
  • als SWR-Hörspiel: 1 Stunde und 14 Minuten


Leseprobe


„VON TELLHEIM.
[…] Aber Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt haben; der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes eröffnet standen; der Ihres Herzens und Ihrer Hand, wann er schon ihrer noch nicht würdig war, täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich ebenso wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler. – Jenem, mein Fräulein, versprachen Sie sich; wollen Sie diesem Wort halten? –
DAS FRÄULEIN.
Das klingt sehr tragisch! – Doch, mein Herr, bis ich jenen wieder finde, – in die Tellheims bin ich nun einmal vernarret, – dieser wird mir schon aus der Not helfen müssen. – Deine Hand, lieber Bettler! Indem sie ihn bei der Hand ergreift.
VON TELLHEIM
der die andere Hand mit dem Hute vor das Gesicht schlägt, und sich von ihr abwendet. Das ist zu viel! – Wo bin ich? – Lassen Sie mich, Fräulein! – Ihre Güte foltert mich! – Lassen Sie mich.
DAS FRÄULEIN.
Was ist Ihnen? wo wollen Sie hin?
VON TELLHEIM.
Von Ihnen! –
DAS FRÄULEIN.
Von mir? Indem sie seine Hand an ihre Brust zieht. Träumer!
VON TELLHEIM.
Die Verzweiflung wird mich tod zu Ihren Füßen werfen.
DAS FRÄULEIN.
Von mir?
VON TELLHEIM.
Von Ihnen. – Sie nie, nie wieder zu sehen. – Oder doch so entschlossen, so fest entschlossen, – keine Niederträchtigkeit zu begehen, – Sie keine Unbesonnenheit begehen zu lassen – Lassen Sie mich, Minna!“

(2. Aufzug, 9. Auftritt, Zitat: TextGrid Repository (2012). Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. TextGrid Digitale Bibliothek)

Was finde ich an dem Text interessant?


An dem Lustspiel Minna von Barnhelm ist besonders interessant, wie Lessing Fragen von Ehre, Standesdenken und Geschlechterrollen verhandelt und dabei gleichzeitig zeigt, dass wahre Würde nicht an äußeren Umständen hängt. Die weibliche Hauptfigur Minna durchbricht mit Witz und Verstand die traditionelle Geschlechterordnung und übernimmt selbst die Initiative zur Lösung des herrschenden Konflikts. Außerdem lebt das Stück von seinen lebendigen Dialogen und der klugen Konstruktion, die Missverständnisse aufbaut und mit überraschender Leichtigkeit auch wieder auflöst. Minna von Barnhelm ist nicht nur ein bedeutendes Werk der Aufklärung, sondern überzeugt auch aus heutiger Sicht noch durch seine Menschenfreundlichkeit, sein Plädoyer für Toleranz und seine zeitlosen Themen.

Charlotte Schlimme (M.A.-Studierende)