Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert (1797). Erzählung
Inhalt
In Ludwig Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert schildert der Autor das Schicksal eines Ritters, dessen Leben durch Schuld, Geheimnisse und Misstrauen aus den Fugen gerät. Zunächst vertraut sich Eckberts Frau Bertha einem gemeinsamen, vermeintlich engen Freund, Walther, an und erzählt von ihrer Jugend: Nach einer Kindheit in Armut flieht sie aus ihrem Elternhaus und gelangt zu einer geheimnisvollen alten Frau in einem entlegenen Wald, wo sie ein abgeschiedenes, fast märchenhaftes Leben führt: Bertha lernt den Umgang mit Tieren und mit der Natur und erhält Gaben, die ihr ein sorgenfreies Dasein ermöglichen (vgl. Tieck 2025:13f.). Doch nach ein paar Jahren lässt sie sich von Sehnsucht und Neugier nach der Welt leiten und verrät die alte Frau, indem sie trotz zuvor gemachter Versprechungen deren Schätze stiehlt und aus dem abgeschiedenen Zuhause flieht (vgl. ebd.:18f.). Nachdem Bertha dieses Geheimnis mit Walther geteilt hat, geschieht das Unheimliche: Walther kennt Einzelheiten, die er unmöglich wissen könnte. Daraufhin wird Eckbert zunehmend misstrauischer, bis er Walther schließlich erschießt. Kurz darauf stirbt jedoch auch Bertha, und Eckbert bleibt vereinsamt zurück (vgl. ebd.:23ff.). Als er später auf den Ritter Hugo trifft und ihm zunehmend Vertrauen schenkt, nimmt dieser plötzlich die Gesichtszüge seines getöteten Freundes Walther an, woraufhin sich Eckberts Verfolgungswahn ins Unermessliche steigert: Er glaubt nun, überall Walther zu sehen, bis ihm am Ende die alte Frau aus dem Wald begegnet, von der er erfährt, dass sein Freund Walther, der Ritter Hugo und die alte Frau selbst ein und dieselbe Gestalt sind und dass Bertha in Wahrheit seine Schwester war. Durch diese Enthüllung stürzt Eckbert vollends in den Wahnsinn und schließlich in den Tod (vgl. ebd.:26ff.).
Tiecks Erzählung verbindet Märchenmotive mit psychologischen Elementen und macht deutlich, wie dünn die Grenze zwischen Realität und Wahnsinn ist. Der blonde Eckbert zeigt damit exemplarisch die romantische Faszination für das Unheimliche, das Unbewusste und die Abgründe menschlicher Existenz.
Einordnung
Ludwig Tieck zählt zu den zentralen Vertretern der deutschen Romantik. Mit der Erzählung Der blonde Eckbert legt er eines der Schlüsselwerke der Frühromantik vor, das sich aus heutiger Sicht „als zentrales Archiv der späteren romantischen Literatur bezeichnen“ lässt (Tieck 2025:79, zit. nach Stockinger/Scherer 2011:504). Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass Der blonde Eckbert wohl als erster Text „das Fantastische“ verarbeitet und traditionelle Märchenmotive mit zur damaligen Zeit neuartigen „psychopathologischen“ Elementen wie dem Realitätsverlust verbindet. Dadurch kommt es zur Auflösung fester Grenzen zwischen Realität und Fantasie, sodass eine Atmosphäre entsteht, in der das Wunderbare, Bedrohliche und Psychologische untrennbar ineinander übergehen (Matuschek 2024:48 und 105f.). Durch diese Verbindung der märchenhaften, fantastischen Elemente mit zentralen Aspekten der Romantik schafft Tieck mit Der blonde Eckbert die Mischgattung des Kunstmärchens (vgl. Arendt 1972:266ff.).
Der historische Hintergrund des Textes ist die Zeit um 1800, in der sich in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche und geistige Umbrüche vollzogen. Auf die Vernunftorientierung der Aufklärung folgte ein „Mentalitätswechsel“ in Deutschland und damit ein wachsendes Bedürfnis nach Emotionalität, subjektiver Erfahrung und ästhetischer Ganzheit (vgl. Matuschek 2024:65ff./Matuschek 2021:11). In diesem Kontext entsteht Der blonde Eckbert als musterhaftes Werk: Es zeigt Figuren, die in innerer Zerrissenheit zwischen Schuld, Sehnsucht und existenzieller Verlorenheit gefangen sind und denen jede klare Orientierung entgleitet, wobei die Auflösung fester Identitäten (etwa durch die unheimliche Gestalt, die in Walther, Hugo und der alten Frau zugleich erscheint) auf das romantische Spiel mit Vieldeutigkeit und Identitätsunsicherheit verweist (vgl. Tieck 2005:27ff.).
Literaturangaben
- Arendt, Dieter: Der ‚poetische Nihilismus‘ in der Romantik. Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik. Band 2. Tübingen 1972.
- Matuschek, Stefan: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. München 2021.
- Matuschek, Stefan: Die Romantik. Themen, Strömungen, Personen. München 2024.
- Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. Herausgegeben von Winfried Freund. Stuttgart 2005. (Reclam Lektüreschlüssel, Nr. 15349)
- Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Herausgegeben von Uwe Jansen. Ditzingen 2025. (Reclam XL – Text und Kontext, Nr. 16167)
Ausgaben
- Tieck, Ludwig: Schriften in zwölf Bänden. Band 6. Phantasus. Herausgegeben von Manfred Frank. Frankfurt am Main 1985. (SDP-Bibliothek, Signatur V-TI 20 1/10:6)
- Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Märchen. Ditzingen: Reclam 2025 (unveränderte Neuausgabe, Reclam Nr. 14693)
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Internationale Tieck-Gesellschaft
- Schmitz, Walter: Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit. Tübingen 1997. (SDP-Bibliothek, Signatur V-TI 20 5/6)
- Stockinger, Claudia/Scherer, Stefan: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2011. (SDP-Bibliothek, Signatur V-TI 20 5/20)
Lesedauer
Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit
- Friedrich Frieden: 41 Minuten
- Jürgen Fritsche: 50 Minuten
Leseprobe
„[...] In einem Augenblicke kam mir die ruhige Einsamkeit so schön vor, dann entzückte mich wieder die Vorstellung einer neuen Welt, mit allen ihren wunderbaren Mannigfaltigkeiten.
Ich wußte nicht, was ich aus mir selber machen sollte, der Hund sprang mich unaufhörlich an, der Sonnenschein breitete sich munter über die Felder aus, die grünen Birken funkelten: ich hatte die Empfindung, als wenn ich etwas sehr Eiliges zu tun hätte, ich griff also den kleinen Hund, band ihn in der Stube fest, und nahm dann den Käfig mit dem Vogel unter den Arm. Der Hund krümmte sich und winselte über diese ungewohnte Behandlung, er sah mich mit bittenden Augen an, aber ich fürchtete mich, ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefäßen, das mit Edelsteinen angefüllt war, und steckte es zu mir, die übrigen ließ ich stehn.
Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunderliche Weise, als ich mit ihm zur Tür hinaustrat, der Hund strengte sich sehr an, mir nachzukommen, aber er mußte zurückbleiben.
Ich vermied den Weg nach den wilden Felsen und ging nach der entgegengesetzten Seite. Der Hund bellte und winselte immerfort, und es rührte mich recht inniglich, der Vogel wollte einigemal zu singen anfangen, aber da er getragen ward, mußte es ihm wohl unbequem fallen.
So wie ich weiter ging, hörte ich das Bellen immer schwächer, und endlich hörte es ganz auf. Ich weinte und wäre beinahe wieder umgekehrt, aber die Sucht etwas Neues zu sehn, trieb mich vorwärts. […]“
(Zitat: TextGrid Repository (2012). Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. TextGrid Digitale Bibliothek)
Was finde ich an dem Text interessant?
Der blonde Eckbert fasziniert durch die enge Verflechtung von Märchen, Naturdarstellung und psychologischer Tiefe. Was zunächst wie eine idyllische, märchenhafte Geschichte erscheint, entwickelt sich schnell zu einer unheimlichen Erzählung über Schuld, Wahnsinn und die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen. Die Figuren sind von innerer Unsicherheit und existenzieller Verlorenheit geprägt, wodurch der Text zeitlos wirkt: Er verhandelt Fragen nach Identität und Wahrheit in einer Welt, in der Wirklichkeit und Illusion ineinander übergehen. Besonders ansprechend ist dabei die düstere, traumartige Atmosphäre, die den Leser in eine Zwischenwelt aus Fantasie und Realität zieht. Der blonde Eckbert sollte deshalb nicht nur als zentrales Werk der Romantik betrachtet, sondern auch heute noch als lesenswert angesehen werden, weil er die Abgründe menschlicher Psyche und die unheimliche Seite des Alltäglichen eindringlich erfahrbar macht.
Charlotte Schlimme (M.A.-Studierende)