Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl (1901). Novelle

Inhalt


In Arthur Schnitzlers Novelle Lieutenant Gustl begleiten die Leser:innen den gleichnamigen Offizier durch eine einzige Nacht, die sein Leben grundlegend verändern soll. Nach einem Konzertbesuch wird Gustl in der Garderobe von einem Bäckermeister beleidigt und bedroht, kann aber, aufgrund seines militärischen Ehrenkodexes, nicht wie für ihn üblich mit einem Duell reagieren (vgl. Schnitzler 2014: 15ff.). Für ihn bedeutet diese Ohnmacht eine unerträgliche Schande, die er nur wiedergutmachen kann, wenn er sich das Leben nimmt. In einem inneren Monolog voller Widersprüche, Selbstüberschätzung, Angst und Verzweiflung durchwandert Gustl die Nacht, schwankend zwischen Selbstmitleid und Aggression, wobei er beschließt, am nächsten Tag „Schluss“ zu machen (ebd.: 21f.). Am Morgen erfährt er zufällig, dass der Bäckermeister plötzlich verstorben ist, womit die vermeintliche Ehrverletzung keine Konsequenzen mehr hat. Schlagartig ändert sich seine Stimmung: Der Lebenswille kehrt zurück, und Gustl fühlt sich moralisch und gesellschaftlich rehabilitiert (vgl. ebd.: 43f.). Schnitzler zeigt in der Figur Gustl ein eindringliches Porträt eines Menschen, dessen Denken und Handeln völlig von sozialen Normen und Erwartungen bestimmt ist. Die Novelle bietet so nicht nur ein frühes Beispiel für die Technik des inneren Monologs, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit den starren Ehrbegriffen und autoritären Strukturen der Gesellschaft zur Zeit der Habsburger Monarchie.

Einordnung


Arthur Schnitzler zählt zu den bedeutendsten Vertretern der Wiener Moderne, einer literarischen Strömung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die stark von Psychologie, Subjektivität und gesellschaftlicher Kritik geprägt ist. Mit der Erzählung Lieutenant Gustl, erstmals veröffentlicht im Jahr 1900, gelingt Schnitzler ein formal wie inhaltlich wegweisendes Werk: Die Novelle gilt als eine der ersten deutschsprachigen Prosatexte, die vollständig im inneren Monolog verfasst sind (vgl. Leis 2020: 76). Damit greift Schnitzler auf neue erzähltechnische Mittel zurück, um die inneren Prozesse seiner Figuren in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei wurde er unter anderem auch von der zeitgenössischen Tiefenpsychologie Sigmund Freuds beeinflusst, mit dem ihn sogar persönlich eine Bekanntschaft verband. Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, deren starres Standesdenken, militärische Hierarchien und Ehrvorstellungen Schnitzler immer wieder zum Thema machte, bildet den historischen Hintergrund der Erzählung (vgl. Leis 2020: 42ff.).
Lieutenant Gustl zeigt die radikale Subjektivität einer Figur, die im Spannungsfeld zwischen persönlichem Empfinden und gesellschaftlichem Erwartungsdruck agiert. Der Offizier Gustl wird in seinem Ehrgefühl verletzt, ohne reagieren zu können, was ihn in einen Zustand versetzt, den er als so unerträglich empfindet, dass Selbstmord die einzige Lösung zu sein scheint. Die Novelle destruiert dabei die Vorstellungen von Männlichkeit, Ehre und gesellschaftlicher Ordnung, indem sie die Gedankenwelt eines Mannes offenlegt, der zwar dem Typus des k.u.k.-Offiziers und seinen Ehrvorstellungen verhaftet bleibt, zugleich aber in einem inneren Konflikt aus Angst, Verzweiflung und Selbstzweifeln gefangen ist. Der plötzliche Tod des vermeintlichen Gegners entzieht dem drohenden Duell die Grundlage und macht sichtbar, dass Gustls Ehrkonzept nicht tragfähig ist (vgl. ebd.: 22-26).
Stilistisch überzeugt der Text durch seine konsequente Innenperspektive: Ganz ohne Erzählerkommentar und äußere Beschreibungen sowie fast ohne Dialoge entfaltet sich ein ununterbrochener Gedankenstrom, der den Leser unmittelbar in Gustls Bewusstsein eintauchen lässt und durch Assoziationen, Stimmungswechsel und widersprüchliche Impulse ein vielschichtiges Bild innerer Zerrissenheit zeichnet. Diese innovative Erzählweise macht Lieutenant Gustl nicht nur zu einem stilistisch innovativen Werk, sondern auch zu einer präzisen Beobachtung gesellschaftlicher Mechanismen (vgl. ebd.: 34ff.). Schnitzler begegnet tradierten Werten wie militärischer Ehre, männlicher Selbstsicherheit und sich selbst zugeschriebener moralischer Überlegenheit mit kritischer Distanz, wobei er in Lieutenant Gustl diese Ideale mit feiner Ironie und psychologischer Genauigkeit demontiert und damit einen Schlüsseltext der literarischen (Wiener) Moderne schafft, der zugleich das Selbstverständnis einer untergehenden Gesellschaft hinterfragt.

Literaturangaben


  • Leis, Mario: Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl. Lektüreschlüssel. Ditzingen: Reclam 2020.
  • Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Novelle. Herausgegeben von Konstanze Fiedl. Ditzingen: Reclam 2014.


Ausgaben


  • Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Text und Kommentar. Herausgegeben und kommentiert von Ursula Renner. Frankfurt am Main 2007. (SDP-Bibliothek, Signatur E-5 13/450:33 Mag.)
  • Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Konstanze Fliedl. Berlin/New York 2011. (SDP-Bibliothek, Signatur: W-SCHN 40 1/5:1)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit

  • Sven Görtz: 1 Stunde und 32 Minuten
  • Werner Kreindl: 1 Stunde und 15 Minuten


Leseprobe


„Wie lang wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … Erst viertel auf zehn? … Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt … Was ist es denn eigentlich? Ich muss das Programm anschauen … Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, dass man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt’ mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, dass ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen … Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann … Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billet gehabt, der Kopetzky … Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! bravo! … Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart? … […]“

(Beginn der Novelle „Lieutenant Gustl“ zitiert nach Zeno.org: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1961, S. 337)

Was finde ich an dem Text interessant?


Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl ist vor allem deshalb besonders lesenswert, da der Text konsequent als innerer Monolog verfasst ist, was nicht nur zur damaligen Zeit eine neuartige Erzähltechnik darstellt, sondern auch heute eine interessante Gestaltungsform ist, die dem Leser unmittelbaren Zugang zu den Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen der Hauptfigur bietet. Ohne auktoriale Vermittlung entfaltet sich das gesamte Geschehen in Echtzeit im Kopf des Protagonisten, wodurch seine Unsicherheit, Eitelkeit sowie soziale Abhängigkeit besonders deutlich werden. Dabei erlebt der Leser Gustls innere Zerrissenheit unmittelbar mit, etwa in seiner Angst vor dem drohenden Ehrverlust, seinen Todesfantasien und auch schließlich seiner Erleichterung. Diese subjektive Perspektive macht den Text psychologisch eindringlich und ermöglicht durch die konsequente Innensicht ein authentisch wirkendes Bild eines Menschen, der zwischen gesellschaftlichem Druck und persönlicher Überforderung schwankt.

Charlotte Schlimme (M.A.-Studierende)