Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Übersicht: Das lyrische Werk


1902 erscheint Else Lasker-Schülers erster Gedichtband Styx. Trotz aller lebensphilosophisch grundierten Feier von Jugend, Rausch und Natur, die von der Literatur der Jahrhundertwende geprägt ist, sind in manchen Gedichten bereits Anklänge an spätere Schaffensphasen erkennbar. So ist Weltschmerz in für Lasker-Schüler typische zweizeilige Strophen gefasst, enthält kühne Metaphern („Ich, der brennende Wüstenwind“) und nimmt Bezug auf altertümliche Topoi („steinernes Sphinxhaupt“). (Lasker-Schüler 1996, Bd. 1.1, S. 51)
In der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm erscheint 1910 ihr wohl berühmtestes Gedicht Ein alter Tibetteppich. Die in diesem Gedicht enthaltenen Neologismen, die ornamentale Sprache sowie die Bezugnahme auf ,exotische‘ Vorstellungswelten stehen exemplarisch für Lasker-Schülers Lyrik in diesem Zeitraum.
1913 veröffentlicht sie mit den Hebräischen Balladen ihre vierte Gedichtsammlung. Der Titel spielt auf Heines Hebräische Melodien an; grundsätzlich ist Heine eine wichtige Bezugsgröße für Lasker-Schüler (vgl. Bodenheimer/Kilcher 2012, S. 328). Die alttestamentarischen Mythen werden in den Gedichten teilweise stark verfremdet wiedergegeben; die „Balladen“ enthalten entgegen der Gattungskonvention keine dramatischen und nur ansatzweise epische Elemente. Einerseits schlägt sich in diesem Band Lasker-Schülers Auseinandersetzung mit den kulturellen Grundlagen des Judentums nieder, andererseits grenzen die bilderreichen Gedichte nicht selten ans Groteske oder sind erotisch aufgeladen.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Lasker-Schüler vorrangig Liebeslyrik verfasst hat. Die Anspielung auf religiöse Mythen und ,orientalische‘ Vorstellungswelten geschieht meist im Zuge ihrer Liebeslyrik. Darüber hinaus sind Lasker-Schülers Gedichte von einem „dialogischen Gestus“ (Prill 1990, S. 32) geprägt.
In den Gedichten aus der Sammlung Mein blaues Klavier (1943) kommt Lasker-Schülers Verzweiflung über die Weltlage sowie die eigene Exilsituation zur Sprache. Die weiterhin dominante Liebeslyrik sowie die Beschäftigung mit religiösen Thematiken finden nun vor dem Hintergrund von Trauer und Entsetzen statt. Stilistisch fallen die Gedichte durch eine größere Formstrenge auf, die sich in regelmäßigeren Strophen- und Reimformen äußert. Das berühmte Titelgedicht entwickelt eine Metapher für den Zivilisationsbruch durch Nazi-Deutschland.

Einordnung


Else Lasker-Schüler hat zahlreiche Texte in Prosa verfasst, einen Roman veröffentlicht und drei Theaterstücke geschrieben. Überdies hat sie ein bildnerisches Werk hinterlassen. Dennoch wird sie vorranging als Lyrikerin wahrgenommen. Bei der Darstellung und Einordnung ihres lyrischen Schaffens muss folglich beachtet werden, dass es sich nur um einen Aspekt ihres vielgestaltigen Werkes handelt.
1869 in Elberfeld bei Wuppertal geboren, wächst sie in einem bildungsbürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Die Familie ist zwar nicht assimiliert, aber die Bindung an die jüdische Tradition ist eher lose. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Lasker-Schüler bereits in ihrer Kindheit mit Antisemitismus und gewaltsamen Übergriffen auf Juden konfrontiert wurde (vgl. Bodenheimer/Kilcher 2012, S. 327). 1894 zieht sie nach Berlin, wo sie mit der zeitgenössischen Avantgarde in Berührung kommt.
Prill konstatiert: „Wie kaum ein anderer Schriftsteller gilt Else Lasker-Schüler bis heute als die Repräsentantin des deutschen Expressionismus“ (Prill 1990, S. 31). Tatsächlich verfasst Lasker-Schüler nicht nur Gedichte, die der literarischen Strömung des Expressionismus zugeordnet werden, sondern gibt mit ihrem Ehemann Georg Lewin (von Lasker-Schüler zu Herwarth Walden umbenannt) auch die legendäre expressionistische Zeitschrift Der Sturm heraus und steht mit zahlreichen Protagonisten dieser Strömung im engen Kontakt, unter anderem mit Alfred Döblin, Gottfried Benn, Franz Werfel, Karl Kraus und dem Maler Franz Marc. Dennoch lässt sich mit dem Schlagwort Expressionismus das lyrische Werk der Schriftstellerin nicht vollumfänglich beschreiben. So kann beispielsweise von einer für den Expressionismus typischen Ästhetik der Hässlichkeit in ihrem lyrischen Werk keine Rede sein.
Lasker-Schülers schriftstellerischen und künstlerischen Arbeiten erregen schon zu Lebzeiten Aufsehen. Karl Kraus reagiert mit Begeisterung auf die Veröffentlichung von Ein alter Tibetteppich: Das „Gedicht gehört für mich zu den entzückendsten und ergreifendsten, die ich je gelesen habe“ (zitiert nach Prill 1990, S. 32). An viele ihrer Dichterkollegen verfasst Lasker-Schüler Gedichte, die auf eigentümliche Weise deren künstlerisches Schaffen und Persönlichkeit beleuchten. Zudem schreibt sie ergreifende lyrische Nachrufe auf im Ersten Weltkrieg umgekommene Freunde (etwa über Georg Trakl und Franz Marc). Dichter wie Gottfried Benn, mit dem sie zeitweilig eine Liebesbeziehung verbindet, adressiert sie in ihren Gedichten mit Fantasienamen. Während Benn „König Giselheer“ genannt wird, erschafft Lasker-Schüler für sich selbst eine fantastische Identität als „Prinz Jussuf von Theben“. Diese „orientalisch-ägyptisch-arabisch-jüdische Existenz“ (Bodenheimer/Kilcher, 327) hat nicht nur Auswirkungen auf ihr reales Leben – bis zum Lebensende unterschreibt sie ihre Briefe mit „Prinz Jussuf von Theben“ und anderen Fantasienamen – sondern auch auf ihre Lyrik, wo sie es bisweilen auf eine Verwischung der Geschlechtergrenzen anlegt. In den Liebesgedichten Ruth, Eva und Sulamith aus den Hebräischen Balladen richtet sich ein vermutlich männliches lyrisches Ich – der Bezug auf die alttestamentarischen Mythen legt nahe, dass es sich um Boas, Adam und Salomo handelt – an die titelgebenden weiblichen Figuren aus dem Alten Testament. Gedichte wie David und Jonathan sind dezidiert homoerotisch.
Eine weitere Besonderheit ihres lyrischen Schaffens ist die intensive Bezugnahme auf ,orientalisierende‘ Bildwelten. Zwar erinnert Lasker-Schüler in ihrer Prosa an die gemeinsame kulturelle Grundlage von Christentum und Judentum, betont aber insbesondere die geistige Nähe von Islam und Judentum. Trotz einer verstärkten Hinwendung zum Judentum spätestens ab den Hebräischen Balladen bleibt Lasker-Schüler zu Bewegungen des politischen Zionismus auf Distanz. Stattdessen ist mit Blick auf ihr Werk von Kulturzionismus zu sprechen (vgl. Bodenheimer/Kilcher 2012, S. 327–329).
1933 muss sie vor dem NS-Regime in die Schweiz fliehen. Dort steht sie unter anderem mit der Familie Mann im Kontakt. Um ihre Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz verlängern zu können, muss sie regelmäßig nach Palästina ausreisen. 1939 wird ihr die Wiedereinreise verweigert; die letzten sechs Jahre ihres Lebens verbringt sie in prekären Verhältnissen in Jerusalem. Trotz der Verzweiflung angesichts des Weltgeschehens und der eigenen Situation gelingt es ihr auch in Jerusalem, einen Kreis aus Intellektuellen um sich zu versammeln. Die Gruppe, zu der unter anderem Martin Buber gehört, veranstaltet regelmäßig Vortragsabende über religionsphilosophische Themen. Der 1943 veröffentlichte Gedichtband Mein blaues Klavier wird von ihren Jerusalemer Freunden frenetisch gefeiert. 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, stirbt Lasker-Schüler und wird auf dem Ölberg in Jerusalem bestattet.
In der deutschen Nachkriegszeit ereilt Lasker-Schülers Werk ein für Exilschriftsteller typisches Schicksal. Die Rezeption ist geprägt von Ignoranz, Vereinnahmung und Simplifizierung. Zwar feiert Gottfried Benn sie in einer Rede von 1952 als „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“ (zitiert nach Hessing 1994, S. 5). Statt auf die Ereignisse der jüngsten Geschichte einzugehen, vereinnahmt Benn jedoch ihr Werk als Ausdruck einer „Seinsgemeinschaft“ (ebd.) des Jüdischen und Deutschen. Dadurch erhält das Lob einen bitteren Beigeschmack – zumal Benn sich anfänglich dem Nationalsozialismus angeschlossen hatte und auf Exilliteraten schimpfte (vgl. ebd. S. 5f.). Verlässliche Informationen über Lasker-Schülers Leben und Werk sind aufgrund der werkimmanenten und vielerorts noch nationalsozialistisch beeinflussten Nachkriegsgermanistik rar (vgl. ebd. S. 6-8). Die bis heute nachwirkende Überzeichnung Lasker-Schülers als naive und fantasievoll-kindliche Dichterin unterschlägt, dass sie über ein „waches Bewusstsein für das Tagesgeschehen“ (Bodenheimer/Kilcher 2012, S. 330) verfügte.

Literaturangaben


  • Bodenheimer, Alfred / Kilcher, Andreas: Lasker-Schüler, Else [Art.]. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2012, S. 327-331.
  • Hessing, Jakob: Die Dichterin im Vakuum. Die Heimkehr einer Emigrantin als kulturpolitisches Phänomen. In: TEXT + KRITIK 122 (1994), S. 3-17.
  • Lasker-Schüler, Else: Gedichte. In: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Band 1.1. Frankfurt am Main 1996.
  • Prill, Meinhard: Else Lasker-Schüler. Das lyrische Werk [Art.]. In: Kindlers neues Literatur Lexikon. Hg. von Walter Jens. München 1990, S. 31-33.


Ausgaben


  • Else Lasker-Schüler: Gedichte. In: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Band 1.1. Frankfurt am Main 1996. (Standort SDP-Bibliothek, Signatur: W-LA 75 1/5:1,1)
  • Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Uljana Wolf. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2021.


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Bodenheimer, Alfred / Kilcher, Andreas: Lasker-Schüler, Else [Art.]. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2012, S. 327-331.
  • Opitz-Wiemers, Carola: Lasker-Schüler, Else [Art.]. In: Metzler Autorinnen Lexikon. Hg. von Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stephan und Flora Veit-Wild. Stuttgart 1998, S. 290-292.
  • Else Lasker-Schüler-Almanach. Hg. von der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Band 1–16 (1993–2025).
  • Else Lasker-Schüler-Jahrbuch zur Klassischen Moderne. Hg. von Lothar Bluhm und Andreas Meier. Band 1–4 (2000–2010).
  • Else Lasker-Schüler-Gesellschaft


Lesedauer


  • Hebräische Balladen: 5–10 Minuten (individuelle Lesezeit)
  • Mein blaues Klavier: ca. 20 Minuten (individuelle Lesezeit)


Leseprobe


„Zur Kindheit

Wir wollen wie der Mondenschein
Die junge Frühlingsnacht durchwachen.
Wir wollen wie zwei Kinder sein!
Du hüllst mich in dein Goldhaar ein
Und lehrst mich so wie du zu lachen.

An deiner reinen Mädchenbrust
Entflieht der Fluch aus meinem Leben.
Zum Kampfe hab’ ich jung gemusst.
Ich sehnte mich nach Kinderlust
Und niemand konnte sie mir geben.

Ich sehnte mich nach Mutterlieb’
Und Vaterwort und Frühlingsspielen.
Den Fluch, der mich durchs Leben trieb
Begann ich, da er bei mir blieb
Wie einen treuen Feind zu lieben.

Die Bäume prangen seidenfein
Und Liebe duftet von den Zweigen.
Du musst mir Vater und Mutter sein
Und Frühlingsspiel und Schätzelein
Und – ganz mein Eigen .....“

(Else Lasker-Schüler: Die Gedichte. Hg. und kommentiert von Gabriele Sander. Stuttgart 2016, S. 13f.; frei verfügbares PDF des Reclam Verlags).

Zur Einführung werden zusätzlich folgende Gedichte empfohlen: Ein alter Tipetteppich, Ein Liebeslied, Mein blaues Klavier, Weltende, Die Verscheuchte, Jakob.

Was finde ich an diesen Gedichten interessant?


Zuallererst muss hier wohl der immense Sprachreichtum erwähnt werden. Lasker-Schüler gehört zu den innovativsten Dichter:innen des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu anderen Schriftsteller:innen der literarischen Avantgarde folgen ihre Texte keinem ästhetischen Programm. Kein theoretisches Verdikt steht hinter ihrer formenreichen Lyrik, sondern eine unerschöpfliche Kreativität, die nie ins Willkürliche absinkt. Die durch einen weiten Bildungshorizont ermöglichten bedeutungsschweren Texte geraten nie bierernst, Humor ist eine weitere wichtige Komponente in Lasker-Schülers Lyrik. Aus gegenwärtiger Perspektive interessiert mich der spielerische Umgang mit Geschlechterkonventionen sowie das Zusammendenken von jüdischer und arabischer Tradition.

Jakob Malzahn (M.A.-Studierender)