Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951). Roman
Inhalt
Der 1951 erschienene Roman Tauben im Gras spielt an einem einzigen Tag im Nachkriegs-München. In rund 100 kurzen, montierten Szenen werden mehr als 30 Figuren verfolgt, deren Lebenswege sich zum Teil überschneiden, zum Teil jedoch nur nebeneinander existieren. Unter ihnen sind ein amerikanischer Besatzungssoldat, der schwarze GI Odysseus Cotton, ein heimkehrender Schriftsteller, eine Schauspielerin, eine Prostituierte, eine Mutter mit Kind, aber auch einfache Passanten.
Die Szenen zeigen den Alltag im zerstörten München, geprägt von Wohnungsnot, Schwarzmarkt, Armut und Unsicherheit, aber auch vom Einfluss der amerikanischen Besatzung, vom aufkommenden Konsum und von den Spuren der NS-Vergangenheit. Rassismus, Antisemitismus und Verdrängung werden ebenso sichtbar wie Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Ein zentrales Ereignis, der geplante Besuch eines berühmten amerikanischen Dichters, verknüpft einige Figuren, bleibt aber für die meisten nur ein flüchtiger Hintergrund.
Der Roman verzichtet auf eine durchgehende Handlung und einen klaren Helden. Stattdessen arbeitet er mit vielen fragmentarischen Perspektiven, aus denen ein Bild einer Gesellschaft im Übergang entsteht, die von Orientierungslosigkeit und Zerrissenheit geprägt ist und sich mit der Frage beschäftigt, wie es in Zukunft weitergehen soll.
Einordnung
Wolfgang Koeppen (1906–1996) gehört zu den wichtigsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Tauben im Gras war sein literarischer Durchbruch und bildet den ersten Teil seiner sogenannten „Trilogie des Scheiterns“ (Das Treibhaus, 1953; Der Tod in Rom, 1954).
Der Roman steht in der Tradition der literarischen Moderne. Koeppen überträgt seine Erzählweise mit den schnellen Szenenwechseln, dem Bewusstseinsstrom, der Montagetechnik und dem Fehlen einer linearen Handlung auf Deutschland nach 1945 und zeigt so die Zersplitterung von Wahrnehmung und Wirklichkeit.
Wichtig ist auch der historische Kontext: 1951, wenige Jahre nach Kriegsende, war Deutschland vom Wiederaufbau, der Teilung in Besatzungszonen und der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld geprägt. Koeppen macht sichtbar, wie tief nationalsozialistische Denkmuster und Ängste noch in den Köpfen vieler Figuren verankert sind. Zugleich beschreibt er das Aufeinandertreffen mit amerikanischer Kultur und die neuen sozialen Spannungen.
Tauben im Gras gilt heute als Schlüsselwerk der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Roman zeigt eindringlich, dass die Wunden des Krieges nicht verheilt waren und dass die junge Bundesrepublik von inneren Widersprüchen geprägt war. Mit seiner modernen Erzählweise und der kritischen Gesellschaftsdarstellung hat Koeppen die deutsche Literatur entscheidend erneuert.
Literaturangaben
- Autorenlexikon Literaturportal Bayern
- Häntzschel, Günter und Hiltrud: Wolfgang Koeppen. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt am Main. Suhrkamp 2006.
- Lebendiges Museum Online
Ausgaben
- Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Hg. v. Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. (SDP-Bibliothek: Signatur X-KO 22 1/4:4)
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Bungter, Georg: Über Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87/4 (1968), S. 535–545.
- Egyptien, Jürgen (Hg.): Wolfgang Koeppen. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009.
- Müller-Waldeck, Gunnar (Hg.): Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die Ziellosigkeit. Hamburg: Europ. Verl.-Anstalt 1998.
Lesedauer
- individuelle Lesezeit: ca. 8 Stunden
- Hörbuch: Ungekürzte Lesung mit Achim Höppner: 8 Stunden, 46 Minuten
Leseprobe
„Öl aus den Adern der Erde, Steinöl, Quallenblut, Fett der Saurier, Panzer der Echsen, das Grün der Farnwälder, die Riesenschachtelhalme, versunkene Natur, Zeit vor dem Menschen, vergrabenes Erbe, von Zwergen bewacht, geizig, zauberkundig und böse, die Sagen, die Märchen, der Teufelsschatz: er wurde ans Licht geholt, er wurde dienstbar gemacht. Was schrieben die Zeitungen? KRIEG UM ÖL, VERSCHÄRFUNG IM KONFLIKT, DER VOLKSWILLE, DAS ÖL DEN EINGEBORENEN, DIE FLOTTE OHNE ÖL, ANSCHLAG AUF DIE PIPELINE, TRUPPEN SCHÜTZEN BOHRTÜRME, SCHAH HEIRATET, INTRIGEN UM DEN PFAUENTHRON, DIE RUSSEN IM HINTERGRUND, FLUGZEUGTRÄGER IM PERSISCHEN GOLF. Das Öl hielt die Flieger am Himmel, es hielt Presse in Atem, es ängstigte Menschen und trieb mit schwächeren Detonationen die leichten Motorräder der Zeitungsfahrer.“
(Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1951, S. 9; Leseprobe des Suhrkamp Verlags)
Was finde ich an dem Text interessant?
Dieser Roman ist interessant, da er ein sehr eindrucksvolles Bild der Nachkriegszeit vermittelt. Besonders faszinierend ist, wie Koeppen die vielen unterschiedlichen Figuren und Perspektiven miteinander verknüpft, sodass ein vielschichtiges Panorama der Gesellschaft entsteht. Obwohl der Text durch seine wechselnden Erzählstränge zunächst anspruchsvoll wirkt, trägt gerade dieser Eindruck dazu bei, die Orientierungslosigkeit spürbar zu machen.
Laura Schuldt (M.Edu.-Studierende)