Heinrich v. Kleist: Der zerbrochne Krug (1808/1811). Lustspiel

Inhalt


Im Mittelpunkt steht der Dorfrichter Adam, der am Morgen einer Gerichtsverhandlung mit einer auffälligen Kopfwunde und ohne seine Perücke erscheint. Gegenstand der Verhandlung stellt ein zerbrochener Krug dar, der bei einem nächtlichen Vorfall im Haus der Witwe Marthe Rull beschädigt wurde. Der beigeordnete Gerichtsrat Walter beobachtet dabei die Amtsführung des Dorfrichters kritisch. Zunächst wird Ruprecht, der Verlobte von Marthes Tochter Eve, beschuldigt. Doch im Verlauf der Befragungen verstrickt sich Adam zunehmend in Widersprüche. Schließlich wird deutlich, dass er selbst in der Nacht bei Eve war und bei dem Versuch, unbemerkt zu entkommen, den Krug zerbrochen hat.

Einordnung


Heinrich von Kleist (1777–1811) zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Literatur um 1800. Sein literarischer Schwerpunkt liegt vor allem im Bereich des Dramas. Literaturgeschichtlich befindet sich Kleist zwischen der Klassik und der Romantik, lässt sich allerdings keiner dieser Epochen eindeutig zuordnen (Ruffing 2021, S. 115). Während die Klassik Harmonie, Ordnung und das Streben nach Vollkommenheit betont und die Romantik Gefühl, Sehnsucht und Träume in den Mittelpunkt stellt, sind Kleists Figuren häufig in Situationen verwickelt, in denen die Kommunikation scheitert, Machtstrukturen versagen und die moralische Ordnung ins Wanken gerät. Aufgrund dieser thematischen und formalen Ambivalenzen wird Kleist in der Forschung als Autor des Übergangs und der Krise bezeichnet (ebd.). Im Jahr 1811 beging Kleist Suizid und dieser „erregte großes öffentliches Aufsehen und warf ein grelles Licht auf die schwierigen Existenzbedingungen von Schriftstellern jenseits der etablierten Lager“ (Beutin et al. 2019, S. 219).
Sein Lustspiel Der zerbrochne Krug wurde als Fragment im Jahr 1808 veröffentlicht und im selben Jahr unter Goethes Leitung erstmals am Hoftheater Weimar aufgeführt. Die Uraufführung wurde zunächst als Misserfolg angesehen: „Neben den beschränkten Möglichkeiten der damaligen Aufführungspraxis spielten vor allem die ungewöhnliche Thematik und die exzentrische Durchführung eine Rolle“ (ebd., S. 220). Im Jahr 1811 entstand die erste vollständige Druckfassung, aber der anhaltende Erfolg trat erst nach Kleists Tod ein. Inhaltlich und formal spiegelt das Stück Kleists Positionierung zwischen der Weimarer Klassik und der Romantik exemplarisch wider, weshalb es als wichtiges Werk des literarischen Kanons gilt. Es verbindet die formale Strenge und moralische Fragestellung der Klassik mit der psychologischen Tiefe und Skepsis der Romantik. Besonders in der Figur Adam ist diese Ambivalenz zu erkennen. Einerseits repräsentiert er die Autorität des Staates durch seine Position als Richter, andererseits offenbaren seine Lügen, Widersprüche und Täuschungsmanöver die Instabilität menschlicher Moral. Die wiederholten Missverständnisse in der Befragungsszene, in der Adam trotz eigener Schuld zunächst Ruprecht verdächtigt, verdeutlichen zudem die Unzuverlässigkeit von Sprache und Wahrheit, die zu den zentralen Motiven der Romantik zählt.
Kleists Schreibweise zeichnet sich durch pointierte Dialoge, sprachliche Mehrdeutigkeiten und eine dichte, konfliktgeladene Struktur aus, wodurch es ihm gelingt, Komik, Spannung, Ironie sowie Auseinandersetzungen mit moralischen und gesellschaftlichen Fragen zu integrieren. Gattungspoetisch ist Der zerbrochne Krug als Lustspiel angelegt, also als komödiantisches Drama, das menschliche Schwächen und gesellschaftliche Konflikte auf humorvolle Weise vorführt. Kleist nutzt die heitere Form nicht zur Wiederherstellung sozialer Ordnung, sondern zur Bloßstellung innerer Widersprüche.

Literaturangaben


  • Ruffing, Rainer: Deutsche Literaturgeschichte. 3. Auflage. Paderborn: UTB 2021.
  • Beutin, Wolfgang / Matthias Beilein / Klaus Ehlert / Wolfgang Emmerich / Christine Kanz / Bernd Lutz / Volker Meid / Michael Opitz / Carola Opitz-Wiemers / Ralf Schnell / Peter Stein / Inge Stephan: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 2019.


Ausgaben


  • von Kleist, Heinrich: Der zerbrochne Krug. Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle. (= Berliner Ausgabe der Sämtlichen Werke Heinrich v. Kleists, Bd. 1: Dramen 3). Basel u.a.: Stroemfeld / Roter Stern 1995. (SDP-Bibliothek, Signatur: V-KL 20 1/15:I,3)
  • von Kleist, Heinrich: Der zerbrochne Krug: Ein Lustspiel. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Hg. v. Mario Leis und Natali-Eitini Petala-Weber. Durchges. u. erw. Ausg. Stuttgart: Reclam 2024. (SDP-Bibliothek, Signatur: V-KL 20 4/40)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


  • Seitenzahl: 97 Seiten
  • individuelle Lesezeit: ca. 2 Stunden, 30 Minuten


Leseprobe


WALTER.
Fragt nach dem Gegenstand der Klage jetzt.
ADAM.
Jetzt soll ich –?
WALTER.
Ja, den Gegenstand ermitteln!
ADAM.
Das ist gleichfalls ein Krug, verzeiht.
WALTER.
Wie? Gleichfalls!
ADAM.
Ein Krug. Ein bloßer Krug. Setzt einen Krug,
Und schreibt dabei: dem Amte wohlbekannt.
LICHT.
Auf meine hingeworfene Vermutung
Wollt Ihr, Herr Richter –?
ADAM.
Mein Seel, wenn ich‘s Euch sage,
So schreibt Ihr‘s hin. Ist‘s nicht ein Krug, Frau Marthe?
FRAU MARTHE.
Ja, hier der Krug –
ADAM.
Da habt Ihr‘s.
FRAU MARTHE.
Der zerbrochne –
ADAM.
Pedantische Bedenklichkeit.
LICHT.
Ich bitt Euch –
ADAM.
Und wer zerbrach den Krug? Gewiß der Schlingel –?
FRAU MARTHE.
Ja, er, der Schlingel dort –
ADAM
für sich.
Mehr brauch ich nicht.
RUPRECHT.
Das ist nicht wahr, Herr Richter.
ADAM
für sich.
Auf, aufgelebt, du alter Adam!
RUPRECHT.
Das lügt sie in den Hals hinein –
ADAM.
Schweig, Maulaffe!
Du steckst den Hals noch früh genug ins Eisen.
– Setzt einen Krug, Herr Schreiber, wie gesagt,
Zusamt dem Namen des, der ihn zerschlagen.
Jetzt wird die Sache gleich ermittelt sein.
WALTER.
Herr Richter! Ei! Welch ein gewaltsames Verfahren.
ADAM.
Wieso?
LICHT.
Wollt Ihr nicht förmlich –?
ADAM.
Nein! sag ich;
Ihr Gnaden lieben Förmlichkeiten nicht.


(Zitat: TextGrid Repository (2012). Heinrich von Kleist: Dramen. Der zerbrochene Krug. TextGrid Digitale Bibliothek)

Was finde ich an dem Text interessant?


Die Dialoge wirken durch zahlreiche indirekte Andeutungen und sprachliche Verschachtelungen oftmals unübersichtlich, sodass ein konzentriertes Lesen erforderlich ist, um den Verlauf der Handlung angemessen verfolgen zu können. Gleichzeitig erzeugt gerade diese Komplexität Spannung, da die Handlungsschritte der Figuren erst nach und nach klar werden. Bereits zu Beginn deutet Adams Kopfwunde seine Verwicklung in den Vorfall an. Die vollständige Auflösung seines Fehlverhaltens wird jedoch auch für den Leser erst schrittweise während der Gerichtsverhandlung deutlich, wodurch die Spannung aufrecht erhalten bleibt.

Annika Bührmann (M.Edu.-Studierende)