Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend (1992). Autobiographie

Inhalt


Den Auslöser für ihre Autobiographie weiter leben. Eine Jugend (1992) nennt Ruth Klüger im Epilog: Während eines zweijährigen Aufenthalts in Göttingen als US-amerikanische Professorin für Germanistik, wurde sie von einem Fahrradfahrer angefahren und überstand die Folgen des Zusammenpralls nur knapp. Durch den Unfall seien Erinnerungen an die Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Wien und das Leben in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt (Groß-Rosen) wieder präsent geworden.
Im ersten Teil schildert Klüger ihre jüdische Kindheit in Wien nach dem ,Anschluss‘ Österreichs an Deutschland 1938. Die Siebenjährige erfährt die gesellschaftliche Ächtung und Bedrohung, zunehmende Armut und Einsamkeit, den Verlust des Vaters und Halbbruders. Dennoch finden in dieser Zeit dank der wachen Neugier des Kindes erste Bildungserlebnisse durch klassische Literatur statt. In einem der letzten Deportationszüge wird sie mit ihrer Mutter von Wien nach Theresienstadt gebracht. Schlaglichtartig beschreibt Klüger im zweiten Teil des Werkes das Leben im überfüllten und verseuchten Konzentrationslager Theresienstadt und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Waren in Theresienstadt trotz der katastrophalen Zustände noch Zusammenkünfte und heimliche ,Unterrichtsstunden‘ mit gelehrten Häftlingen wie Leo Baeck möglich, bestand das Leben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nur noch aus stundenlangem Appellstehen, Hunger, Durst und der Allgegenwart der Gaskammern und Verbrennungsöfen.
Oft unterbricht Klüger ihren Bericht, um mit Bezug auf ihre Erlebnisse Reflexionen über Erinnerung, Kultur und Zivilisation, Würde und Freiheit anzustellen. Sie geht auf die Erinnerungskultur Deutschlands ein, korrigiert Klischees und verzerrte Vorstellungen vom Leben in den Lagern, analysiert ignorante Bemerkungen gegenüber Holocaust-Überlebenden. Gedichte, die Klüger in den Lagern verfasst hat, werden eingefügt. Oft wird fast synchron aus einer Kinder- und Erwachsenenperspektive erzählt. Die Aufzeichnungen enden nicht mit der erfolgreichen Flucht auf einem der Todesmärsche, sondern berichten auch von der Zeit danach: So erzählt der dritte Teil von der unmittelbaren Nachkriegszeit in Bayern und der vierte Teil von der Emigration in die Vereinigten Staaten. Klüger thematisiert den Umgang mit ihrem Trauma, erzählt von emigrationsbedingten Entbehrungen, vom gestörten Verhältnis zur Mutter, aber auch von neuen Freundschaften.

Einordnung


Ähnlich wie Primo Levis Ist das ein Mensch?, Imre Kertész‘ Roman eines Schicksallosen oder Peter Weiss’ Die Ermittlung gehört Ruth Klügers weiter leben mittlerweile zu den klassischen Texten über den Holocaust. Zugleich markiert ihre Autobiografie durch die dezidiert feministische Perspektive und die nüchterne Wiedergabe der eigenen Erfahrungen einen Wendepunkt in der Lagerliteratur (vgl. Breysach 2012, S. 285).
Was Klüger mit ihrem vielzitierten, an die deutschen Leser:innen gerichteten Ausspruch „[w]erdet streitsüchtig“ (Klüger 1992, S. 141), meint, führt sie in ihrer Autobiografie selbst vor: Sie formuliert provokante Thesen zur Musealisierung des Holocaust und kritisiert die Annahme von der Singularität der Shoa. In der Museumskultur der Konzentrationslager sieht Klüger in erster Linie einen Beschwörungsversuch und die Einmaligkeit des Holocaust hält sie wegen ähnlich grausamer (wenn auch in kleinerem Ausmaß begangener) Verbrechen für fragwürdig (vgl. ebd., S. 69–71). Zudem könnten erst mit Vergleichen die Gräuel Hitlerdeutschlands ansatzweise erfasst werden (vgl. ebd., S. 75f., 110).
Nur wer streitsüchtig ist und die Auseinandersetzung sucht, kann schematischen Einordnungen und zur Formel erstarrten Aussprüchen über den Holocaust entgehen. Durch ihren hohen Anspruch an Genauigkeit und Differenzierung kehrt Klüger historische Fakten hervor, die dem kollektiven Gedächtnis weniger bekannt sind. So schildert sie beispielsweise die Fahrlässigkeit, teilweise sogar Gewalttätigkeit alliierter Soldaten bei der Befreiung der Konzentrationslager (vgl. ebd., S. 188–191).
Eine Überlebensstrategie für Klüger sei das Rezitieren und Produzieren von Versen gewesen. Die gebundene Sprache habe sich als ein hilfreiches Gegengift zum Chaos der Lager erwiesen. Adornos Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, lehnt Klüger ab (vgl. ebd., S. 36) und sieht in Versen ein notwendiges Mittel, nicht den Verstand zu verlieren (vgl. Klüger 1992, S. 125–127). Mit den eingeschobenen Gedichten, dem nüchternen, manchmal umgangssprachlichen Duktus ist die Autobiografie auch formal unkonventionell. Lediglich bei Schlüsselszenen, wie der unerwarteten Rettung durch die Assistentin eines selektierenden SS-Mannes (vgl. ebd., S. 131–135), wird der Ton feierlicher.
Durch eine begeisterte Besprechung im Literarischen Quartett wurde Klügers Bericht bei deutschen Leser:innen bekannt. Unzählige Leserbriefe belegen eine überwältigende Rezeption (vgl. Österreichische Nationalbibliothek. Online-Ausstellung: Ruth Klüger: Schreiben für ein Weiterleben). Reich-Ranicki hob im Literarischen Quartett die ungewöhnliche Sprache hervor und bezeichnete die Lektüre als spannend und ergreifend – wenngleich diese Beurteilung dem Gegenstand nicht angemessen scheine und Klüger sich gegen Floskeln verwehre (vgl. Mitschnitt „Das Literarische Quartett“ vom 14.01.1993, ab Minute 31:16).
Für Freund:innen und Bekannte verwendet Klüger Pseudonyme. Einer dieser Freunde hat sich dennoch nach der Veröffentlichung der Autobiografie zu erkennen gegeben: Der deutsche Schriftsteller Martin Walser – in der Autobiografie Klügers Studienfreund Christoph. Klüger beschreibt ihr spannungsvolles Verhältnis zu Walser, die tiefliegenden Unterschiede und den dennoch nie abbrechenden Dialog (vgl. Klüger 1992, S. 210). Obgleich sie sich keinen Illusionen hinsichtlich einer Versöhnung oder wie auch immer zu verstehenden Wiedergutmachung hingibt, widmet sie ihr Buch „den Göttinger Freunden“, die ihr nach dem Unfall geholfen hätten, wieder gesund zu werden.

Literaturangaben


  • Breysach, Barbara: Klüger, Ruth [Art.]. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2012, S. 285-287.
  • Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992.
  • Literarisches Quartett vom 14.01.1993, ab Minute 31:16 [05.10.2025].
  • Österreichische Nationalbibliothek. Online-Ausstellung: Ruth Klüger: Schreiben für ein Weiterleben [05.10.2025].


Ausgabe


  • Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992. (Standort SDP-Bibliothek, Signatur: X-KL 72 4/10)


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Ehalt, Hubert Christian / Fliedl, Konstanze / Strigl, Daniela: Ruth Klüger und Wien. In: Wiener Vorlesungen im Rathaus. Hg. von Hubert Christian Ehalt. Bd. 182, Wien 2016.
  • Kühn, Stefanie: „Zeitschaften“ – Zur Inszenierung von Erinnerung, Identität und Selbstbehauptung in Ruth Klügers autobiografischen Werken. Hamburg 2018.
  • Pérez Zancas, Rosa: Den Holocaust (weiter) schreiben: Intertextualität und Ko-Autorschaft bei Ruth Klüger. Marburg 2013.
  • Yowa, Serge: Eine Poetik des Widerstands. Exil, Sprache und Identitätsproblematik bei Fred Wagner und Ruth Klüger. Beitrag zur neueren kulturwissenschaftlichen und fachübergreifenden Shoah-Autobiografieforschung. Würzburg 2014.


Lesedauer


    individuelle Lesezeit: 7–8 Stunden


Leseprobe


„ERSTER TEIL
WIEN
1
Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte. Ich gab vor, nicht schlafen zu können, bettelte, daß man mich auf dem Sofa im Wohnzimmer (eigentlich sagten wir »Salon«) einschlafen ließe, schlief dann natürlich nicht ein, hatte den Kopf unter der Decke und hoffte, etwas von den Schreckensnachrichten aufzufangen, die man am Tisch zum besten gab. Manche handelten von Unbekannten, manche von Verwandten, immer von Juden. Da war einer, sehr jung, sagen wir Hans, ein Cousin meiner Mutter, den hatten sie in Buchenwald, aber nur auf Frist. Dann war er nach Haus zurückgekommen, war verschreckt, hatte schwören müssen, nichts zu erzählen, erzählte auch nichts, oder doch, oder nur seiner Mutter? Die Stimmen am Tisch, undeutlich aber eben noch hörbar, waren fast ausschließlich Frauenstimmen. Man hatte ihn gefoltert, wie ist das, wie hält man das aus? Aber er war am Leben, Gott sei Dank.
Den Hans habe ich später in England wiedergesehen. Da war ich nicht mehr acht Jahre alt, sondern schon so, wie ich jetzt bin, ein ungeduldiger, zerfahrener Mensch, eine, die leicht was fallen läßt, mit oder ohne Absicht, auch Zerbrechliches, Geschirr und Liebschaften, nirgendwo lange tätig ist und oft auszieht, aus Städten und Wohnungen, und die Gründe erst erfindet, wenn sie schon am Einpacken ist [...]“

(Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. 14. Aufl. München 2007, S. 9; frei verfügbares PDF des Deutschen Taschenbuch Verlags)

Was finde ich an dem Text interessant?


Oft gibt Klüger in ihrem Bericht Gespräche mit Zeitgenoss:innen und Freund:innen über den Holocaust wieder oder richtet sich direkt an die Lesenden. Diese dialogische Schreibweise animiert zum Mitdenken, zum Hinterfragen der eigenen Umgangsweisen mit der deutschen Vergangenheit und ermöglicht ein Verständnis dafür, was Klüger meint, wenn sie von deutschen Leser:innen Streitsucht und Auseinandersetzung einfordert. Eine weitere Besonderheit des Textes ist seine Bezugnahme auf klassische und moderne Werke der deutschsprachigen Literatur. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, welche Funktion die Verweise jeweils einnehmen in Klügers Deutung der eigenen Biografie.

Jakob Malzahn (M.A.-Studierender)