Thomas Kling (1957–2005)

Übersicht: Das lyrische Werk


Die gezielte Deformierung von Wortsemantiken, das Zerhacken von Verszeilen, die Drastik und die Nähe zur Mündlichkeit lassen bereits in Klings erstem Gedichtband erprobung herzstärkender mittel (1986) einen neuen Ton in der Gegenwartslyrik erkennen. 1989 erscheint der Band geschmacksverstärker, der mit konsequenter Verknappung, komplexen Wortspielen und assoziationsreichen Andeutungen noch radikaler gerät als der erste Band (vgl. Korte 2022, S. 2). Das bekannte Eingangsgedicht ratinger hof, zettbeh (3) bringt – unter anderem – den Sound der Punkszene, in der Kling sich bewegte, zu Gehör.
In den Gedichtbänden der 1990er Jahre zeichnet sich eine dezidierte Hinwendung zur Historie ab (vgl. Trilcke 2020, S. 420f.). Die Sprachexperimente, die Abbildung von zahlreichen Idiomen und die an der Filmkunst geschulte Technik der Überblendung werden nun begleitet von einer intermedial beeinflussten Hinwendung zu Geschichte und Archiv. Formal wird zunehmend mit zyklischen Kompositionen und intratextuelle Verflechtungen gearbeitet (vgl. Korte 2022, S. 3–6, 12f.). Ein berühmtes Beispiel dafür, wie Klings Lyrik nun eine Memoria-Funktion einnimmt, ist das Gedicht Manhatten Mundraum Zwei, das sich auf das kollektive Trauma von 9/11 bezieht (vgl. Beyer 2020, S. 748).
Die Arbeit am letzten Gedichtband Auswertung der Flugdaten (2005) geschieht vor dem Hintergrund von Klings Krebserkrankung. Trotz autobiographischer Einfärbung sind die Gedichte weiterhin von einem hochreflexiven Umgang mit Sprache, Medien, Topografien und Geschichte geprägt. Wie in jeder seiner Schaffensphasen betritt Kling auch im Spätwerk formal und inhaltlich neues Terrain. Selbst nach Abschluss von Auswertung der Flugdaten, wenige Wochen vor seinem Tod, beginnt der vom Krebs gezeichnete Lyriker eine neue Arbeitsphase (vgl. ebd., S. 742).

Einordnung


1977 druckt Thomas Kling im Keller eines Schulfreundes seinen ersten Gedichtband der zustand vor dem untergang. Später distanziert er sich von der Lyrik dieser ersten Veröffentlichung (vgl. Wix 2020, S. 467, 472). Sie wird erst posthum in die Werkausgabe des Suhrkamp Verlags aufgenommen. Anfang der 1980er Jahre wird Kling zunächst in rheinischen Szeneclubs durch seine spektakulären Lesungen bekannt (vgl. Korte 2022, S. 2). Durch eine Eloge Friederike Mayröckers in der ZEIT stößt sein erster ,offizieller‘ Gedichtband erprobung herzstärkender mittel (1986) auf breitere Resonanz. Im Feuilleton erregt seine nonkonforme und experimentelle Lyrik Aufsehen – und stößt teilweise auf Ablehnung (vgl. ebd., S. 1–3).
Ein zentraler Begriff in Bezug auf Klings Lyrik ist die Sprachinstallation (vgl. ebd., S. 9). Anknüpfend an die Installationen der modernen bildenden Kunst will Kling mit seinen Gedichten ,Sprachräume‘ schaffen. Die Sprache soll wie ein Material behandelt werden, das im akustischen Raum installiert wird. Es handelt sich also um eine äußerst selbstreflexive, sprachbewusste Lyrik, die angestrebt wird.
Mit diesem Verständnis von Lyrik grenzt Kling sich explizit und oft polemisch von der Lyrik der ,Neuen Subjektivität‘ der 1970er Jahre ab. In seinen Augen verfügte diese über wenig Formbewusstsein und vertrat mit Innerlichkeit und Authentizität ästhetische Werte, die Kling ablehnt. Für ihn ist Lyrik „schädelmagie“ (Kling 2020, S. 360), das Schreiben von Gedichten ist kein gefühlsgeleiteter Prozess, sondern muss mit höchster Aufmerksamkeit betrieben werden. Statt an seinen unmittelbaren Vorgängern orientiert Kling sich an der experimentierfreudigen Lyrik des Wiener Gruppe um Friederike Mayröcker, Ernst Jandl und H. C. Artmann. Auch die Frühe Moderne, und hier vorrangig die Dadaisten und Expressionisten, sind Bezugsgrößen für Kling. Geht man noch weiter in die Literaturgeschichte zurück, dann ist es die Lyrik des Barock, der Klings Interesse gilt (vgl. Korte 2022, S. 9, 15, 20). Die Sprachspiele dieser Epoche sowie die Kunstform des Emblems scheinen Kling stärker zu interessieren als die „,pontifikalen‘ Linien der Lyrikgeschichte“, die von Dichtern wie Klopstock oder Hölderlin vertreten werden (ebd., S. 15).
Der Gedankenlyrik steht Kling fern. Stattdessen betont er, dass das Gedicht mit Realien – in seinem Fall mit Fundstücken aus Archiven oder mit Gegenständen aus der unmittelbaren Umgebung – arbeiten soll. Dafür ist gründliche Recherche, wie Kling sie zeitlebens betrieb, sowie eine scharfe Beobachtungsgabe unabdingbar. ,Konkretion‘ ist für Kling-Kenner ein Schlüsselwort in Bezug auf dessen Werk. Dennoch verfügt Kling über einen enorm weiten humanistischen Bildungshorizont, durch den seine anspielungs- und assoziationsreiche Lyrik überhaupt erst möglich gemacht wird. Zudem weist er verblüffende Kenntnisse des Abwegigen auf; er befasst sich mit Aberglauben, Geheimsprachen und Archäologie (vgl. ebd., S. 13, 15f.). Ein klassischer poeta doctus ist er dennoch nicht, denn dafür sind seine Gedichte einerseits zu experimentierfreudig und andererseits nie um eine komische Pointe verlegen. Oft wurde er als Antipode Grünbeins stilisiert – Kling selbst hat wohl einiges dazu beigetragen.
Nicht nur in den Gedichten selbst, sondern auch in deren mündlicher Interpretation bespielt Kling die Register der Sprache in voller Bandbreite. Bei seinen Auftritten zeigt er durch einen mitreißenden Sprachduktus, wie eine spannende Dichterlesung aussehen kann (vgl. ebd., S. 2). Er selbst äußerte diesbezüglich: „Gegen die trostlose Lesung, die dichterische Sprache [...] ist eine jüngere Dichtergeneration angetreten. […] Wir setzten dagegen die Sprach-Party Gedichte!“ (zitiert nach Korte 2022, S. 13). Darüber hinaus hat Kling die Zusammenarbeit mit bildenden Künstler:innen (wie seiner Frau Ute Langanky) und Musiker:innen (v.a. Frank Köllges) gesucht. Sowohl die Nähe der Lyrik zum Bild als auch die Bedeutung von Akustik, Rhythmus und mündlichem Vortrag hat Kling in Essays und Interviews stets betont.

Literaturangaben


  • Beyer, Marcel: Nachwort. In: Thomas Kling: Werke. Gedichte 2000–2005. Hg. von Marcel Beyer. Bd. 3. Berlin 2020, S. 741–760.
  • Kling, Thomas: Werke. Gedichte 1992–1999. Hg. von Marcel Beyer. Bd. 2. Berlin 2020.
  • Korte, Hermann (2022): Thomas Kling [Art.]. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. [10.10.2024].
  • Trilcke, Peer: Nachwort. In: Thomas Kling: Werke. Gedichte 1992–1999. Hg. von Marcel Beyer. Bd. 2. Berlin 2020, S. 419–433.
  • Wix, Gabriele: Nachwort. In: Thomas Kling: Werke. Gedichte 1977–1991. Hg. von Marcel Beyer. Bd. 1. Berlin 2020, S. 463–487.


Ausgaben


  • Thomas Kling: Werke in vier Bänden. Hg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder v. Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Berlin 2020. (Standort SDP, Signatur: Y-KL 50 1/1:1 [2,3,4])
  • Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten. Köln 2005.


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Ammon, Frieder v. / Rüdiger Zymner (Hg.): Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen. Paderborn 2019.
  • Ammon, Frieder v. / Peer Trilcke / Alena Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Göttingen 2012.
  • Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Thomas Kling. TEXT + KRITIK 147 (2000).
  • Trilcke, Peer: Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings. Göttingen 2012.


Lesedauer


    Auswertung der Flugdaten : ca. 2 Stunden (individuelle Lesezeit)


Leseprobe


„RATINGER HOF, ZETTBEH (3)
»o nacht! ich nahm schon
flugbenzin ..«


nachtperformance, leberschäden,
schrille klausur
                   HIER KÖNNEN SIE
ANITA BERBER/VALESKA GERT BESICHTIGEN
MEINE HERRN .. KANN ABER INS AUGE GEHEN
stimmts outfit? das ist dein auftritt!
schummrige westkurve (»um entscheidende
millimeter geschlagen«)
                       gekeckerte -fetzen
»süße öhrchen«, ohrläppchen metallverschraubt
beschädigtes leder, monturen, blitze
beschläge, fischgrät im parallel-
geschiebe; sich überschlagendes, -lapp
endes keckern (»gestern dä lappn wech«);
unser sprachfraß echt junkfood, echt
verderbliche ware, »süße öhrchen«, wir
stülpen unsere mäuler um JETZT mit der
(kühlschrank)nase flügeln (yachtinstinkt,
»paar lines gezogn«); nebenbei erklärter
maßen blitzkrieg/blickfick (JETZT LÄC
HELN!); havarierte augenpaare (schwer
geädert), »man sieht sich«, kiesel im
geschiebe, man sieht nichts aber: über
gabe/rüberreichen von telefonnummern
(JETZT LECKEN!)
DAS HAARREGISTER: bei
steiler fülle, grannig gestylt, hoch
gesprühter edelwust, fiftyfifty,
gesperberte fönung, cherokeegerädert,
barbieverpuppung, teddysteiff, »sekthell
ihr busch«, weekend-allonge, Yves-Klein-blau,
pechschwanz, schläfenraster, freigelegte
schädeldecke, »um entscheidende millimeter
geschlagen!«
                        (von der kette
gelassen; bereit, zeitig, zum sprung;
zum absprung bereit, die jungens: paar
kanaken plattmachn, gefletschte pupillen,
panzerglasig; vollgestopft mit guten
pillen werden sie dann unter vorrückende
tanks gejagt, »haste ma ne mark für taxi«);
gerädert, bei steiler fülle, OP-bläue,
pechschwanz, schädelraster, ums ganze
haarregister laberschäden; sicherheit ja
die einzige ja: UM FÜNF WIRD HIER
DAS LICHT ANGEHN .. DAS VOLLE LICHT ..
AUFTRITT VON PHANTOMSCHMERZEN .. UND
ANGST DAS KALTE LAKEN“

(Thomas Kling: geschmacksverstärker. gedichte 1985–1988. 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2015; frei verfügbares PDF des Suhrkamp Verlags)

Was finde ich an diesen Gedichten interessant?


Durch Klings Lyrik (und mehr noch durch seine erhellenden Essays) bekommt man einen guten Zugang zu Tendenzen und Themen der oft gewollt hermetisch wirkenden Gegenwartslyrik. Bei Kling erstarrt der Nonkonformismus nicht zur hippen oder elitären Pose, sondern ist von einem ernsthaften Anliegen getrieben. Sprach- und Formbewusstsein sind zentral in seinem Werk und dieses Bewusstsein soll sich auf die Leser:innen übertragen. Neben der Hermetik vieler Gegenwartslyriker:innen bilden bei populären Lyriker:innen aktuell wieder Authentizität und Einfühlung die Leitwerte. Hier zeigt Klings Lyrik, dass Gedichte erheblich mehr bieten können.

Jakob Malzahn (M.A.-Studierender)