Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (1844). Trauerspiel

Inhalt


Das bürgerliche Trauerspiel handelt von der jungen Klara, die von ihrem Verlobten Leonhard schwanger ist, nachdem dieser sie aus Eifersucht gegenüber ihrer alten Jugendliebe bedrängt hat. Leonhard sagt sich jedoch schnell von Klara los, nachdem ihr Bruder Karl des Juwelendiebstahls verdächtigt und verhaftet wird. Die Mutter stirbt durch den Schock angesichts der Beschuldigung ihres Sohnes, sodass Klaras Vater, der Tischlermeister Anton, nun alle Hoffnungen auf seine Tochter setzt. In großer Sorge um seine Ehre signalisiert er ihr nachdrücklich, dass er Suizid begehen werde, falls auch sie ihn enttäusche. Klara, tief verzweifelt und innerlich zerrissen, liebt zwar eigentlich den Sekretär, der ihre Liebe auch erwidert, aber nur eine Heirat mit Leonhard kann die befürchtete, gesellschaftliche Schande eines unehelichen Kindes verhindern. „Mir ist, als wär ich auf einmal tausend Jahr alt geworden, und nun stünde die Zeit über mir still, ich kann nicht zurück und auch nicht vorwärts” (Hebbel 2015, S. 73). Nachdem Leonhard Klaras Bitte um eine Heirat jedoch endgültig abgelehnt hat, sieht Klara keine andere Möglichkeit mehr, als selbst Selbstmord zu begehen, um den drohenden Suizid ihres Vaters abzuwenden. Der Sekretär versucht Klara noch zu helfen und fordert Leonhard zum Duell auf, das er gewinnt, obgleich er selbst ebenfalls verwundet wird. In dieser Zeit stürzt sich Klara schon in einen Brunnen nahe des Elternhauses. Das Drama schließt mit Meister Antons Worten „Ich verstehe die Welt nicht mehr!” (ebd., S. 95).

Einordnung


Die Entstehung von Maria Magdalena zog sich über fast sieben Jahre und gestaltete sich mit Bezug auf die Biografie Friedrich Hebbels aus (Zincke 1910, S. 1). Wie er 1863 in einem Brief schreibt, liegt dem Drama ein selbst erlebter Vorfall zugrunde, nämlich die Verhaftung des Sohnes des Tischlermeisters Anton Schwarz, bei dem Hebbel in seiner Münchner Studienzeit zeitweise wohnte (ebd., S. 22). „Die Selbstbiographie diente ihm gleichsam als Palette, von der er nun die Farben auf sein dramatisches Gemälde übertrug” (ebd., S. 68). Viele der Gegenwartsdramen Hebbels sind mit seinen europäischen Wanderjahren verbunden, insbesondere sein bürgerliches Trauerspiel (Lütkehaus 1983, S. 23). Trotz der langen Entstehungsgeschichte und der augenfällig engen Verflechtung mit der Lebens- und Bildungsgeschichte des Autors gilt Maria Magdalena als eines seiner einheitlichsten und geschlossensten Dramen (Zincke 1910, S. 9).
Im Vorwort zu Maria Magdalena bezeichnet Hebbel die Gattung ‚Drama’ als „die Spitze aller Kunst”, die „den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum [im Weltorganismus], veranschaulichen [soll]” (Hebbel 2015, S. 3). Wie hier schon anklingt, beschäftigten den Autor zwei für ihn untrennbar und wechselseitig miteinander verbundene Problembereiche des 19. Jahrhunderts: die geschichtlich-gesellschaftliche Beziehung zwischen Individuum und Allgemeinem sowie das Verhältnis von Kunst und Leben (Kaiser 1983, S. 143). Aus der Spannung zwischen Individuum und Weltganzem entspringen nach Hebbel allgemeine Gesetze des Tragischen, die das Leben wie auch die Kunst beherrschen (ebd.). Er versteht das Leben somit selbst als Tragödie und die Anerkennung und Ausgestaltung desselben als die höchste Aufgabe des Dramatikers (ebd.). Aus der Engführung von Drama und Leben ergibt sich somit das tragische Weltbild des Autors (ebd., S. 145).
Maria Magdalena wird häufig als „Tragödie des verknöcherten Vorurteils” interpretiert, denn der tragische Verlauf entwickelt sich aus dem einseitig, zu äußerlich aufgefassten Ehrbegriff des Meisters Anton (Zincke 1910, S. 7). Sein Ehrbegriff und sein Charakter werden als Produkte der deutschen kleinbürgerlichen Verhältnisse und der Starrheit dieser Klasse dargestellt (ebd., S. 7, 78). Da das Drama in der moralischen Gebundenheit des vormärzlichen Kleinbürgertums wurzelt, wird aus dem bürgerlichen Trauerspiel „die große soziale Tragödie, die den Untergang einer bestimmten Lebens- und Weltauffassung, einer bestimmten Gesellschaftsklasse behandelt” (ebd., S. 7). Zwar wird Hebbels Drama gemeinhin noch der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels zugeordnet, es verändern sich mit dem Kleinbürgertum aber schon die Vertreter des Standes, die die Überholtheit des Konzepts zum Ausdruck bringen (Pilling 1998, S. 93).
Der Titel des Stücks ist eine Anspielung auf die biblische Gestalt der Sünderin, in früheren Fassungen nannte der Autor das Stück nach der Protagonistin „Klara” (Zincke 1910, S. 86f., Fußnote 1). Häufig wird das Drama auch „Maria Magdalene” genannt, welcher Titel jedoch auf einen Druckfehler zurückzuführen ist (Lütkehaus 1983, S. 34). Maria Magdalena gehört zu den bei den Rezipient:innen der Zeit wirksamsten und populärsten Dramen Hebbels (Reinhardt 1989, S. 168f.).

Literaturangaben


  • Hebbel, Friedrich: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten. Mit Hebbels Vorwort betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte. Anmerkungen von Karl Pörnbacher. Ditzingen 2015.
  • Kaiser, Herbert: Friedrich Hebbel. Geschichtliche Interpretation des dramatischen Werks. München 1983.
  • Lütkehaus, Ludger: Friedrich Hebbel: „Maria Magdalene”. München 1983.
  • Pilling, Claudia: Hebbels Dramen. Frankfurt a. M. u.a. 1998.
  • Reinhardt, Hartmut: Apologie der Tragödie. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Tübingen 1989.
  • Zincke, Paul: Die Entstehungsgeschichte von Friedrich Hebbels „Maria Magdalena”. Prag 1910.


Ausgaben


  • Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Acten (1844). In: Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 1, 2. Besorgt von Richard Maria Werner. Berlin 1913, S. 1–71. (SDP-Bibliothek, Signatur: V-HE 5 1/2:2)
  • Hebbel, Friedrich: Maria Magdalena. Hg. von Wolfgang Keul. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Ditzingen 2022 (Reclam XL – Text und Kontext, Nr. 16153)


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Kraft, Herbert: Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels. Tübingen 1971.
  • Lütkehaus, Ludger: Hebbel. Gegenwartsdarstellung, Verdinglichungsproblematik, Gesellschaftskritik. Heidelberg 1976.
  • Müller, Joachim: Das Weltbild Friedrich Hebbels. Halle (Saale) 1955.
  • Schaub, Martin: Friedrich Hebbel. Hannover 1967.


Lesedauer


  • Individuelle Lesezeit: 2 Stunden, 17 Minuten (Reclam-Ausgabe mit Vorwort, 110 Seiten)
  • Hörbuch: Gesprochen von Eduard Marcks, Annemarie Jung, Dagmar Altrichter
  • Spieldauer: 1 Stunde und 8 Minuten


Leseprobe


„SEKRETÄR.
Du willst –
KLARA.
Zu Leonhard, wohin denn sonst! Nur den einen Weg hab ich auf dieser Welt noch zu machen!
SEKRETÄR.
So liebst du ihn? Dann –
KLARA
wild.
Lieben? Er oder der Tod! Wunderts wen, daß ich ihn wähle? Ich täts nicht, dächt ich an mich allein!
SEKRETÄR.
Er oder der Tod? Mädchen, so spricht die Verzweiflung, oder –
KLARA.
Mach mich nicht rasend! Nenne das Wort nicht mehr! Dich! Dich lieb ich! Da! Da! Ich rufs dir zu, als ob ich schon jenseits des Grabes wandelte, wo niemand mehr rot wird, wo sie alle nackt und frierend aneinander vorbei schleichen, weil Gottes furchtbare heilige Nähe in jedem den Gedanken an die anderen bis auf die Wurzel weggezehrt hat!
SEKRETÄR.
Mich? Noch immer mich? Klara, ich habs geahnt, als ich dich draußen im Garten sah!
KLARA.
Hast du? O, der andere auch! Dumpf, als ob sie allein wäre. Und er trat vor mich hin! Er oder ich! O, mein Herz, mein verfluchtes Herz! Um ihm, um mir selbst zu beweisen, daß es nicht so sei, oder ums zu ersticken, wenns so wäre, tat ich, was mich jetzt – In Tränen ausbrechend. Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich du wäre, und du ich!”

(Zitat: TextGrid Repository (2012). Friedrich Hebbel: Dramen. Maria Magdalene. TextGrid Digitale Bibliothek)

Was finde ich an dem Text interessant?


Interessant an Maria Magdalena finde ich vor allem die von Beginn an offensichtlich nicht funktionierende Kommunikation zwischen dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht. Die männlichen Figuren agieren gleichgültig, moralisch skrupellos und stets auf den eigenen Vorteil sowie ihr öffentliches Ansehen bedacht. Insbesondere erschreckt die Kälte des Meisters Anton, der weder angesichts des plötzlichen Todes seiner Frau noch des Suizides seiner Tochter eine emotionale Reaktion zeigt oder zu einer Art von Selbstreflexion – in Hinblick auf eine mögliche, die eigene Person betreffende Schuld – angeregt zu werden scheint.

Sidney Lazerus (M.A.-Studierende)