Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1912). Novelle
Inhalt
Im Fokus der Novelle Der Tod in Venedig steht der Schriftsteller Gustav von Aschenbach. Sein Leben ist durch Routine, Disziplin und durch künstlerisches Pflichtbewusstsein geprägt. Mit einer spontanen Reise nach Venedig bricht von Aschenbach seine Routine. In Venedig begegnet er dem polnischen Jungen Tadzio, dessen äußeres Erscheinungsbild ihm sofort positiv auffällt. Aus einer zunächst rein ästhetischen Bewunderung erwächst mit der Zeit eine obsessive Faszination dem Jungen gegenüber. Während Venedig unter dem Einfluss einer Choleraepidemie zunehmend zerfällt, verstärkt sich von Aschenbachs Fixierung auf Tadzio zu einem inneren Zusammenbruch. Er vernachlässigt alle Vorsicht und verfällt schließlich der Sinnlichkeit, bis er am Ende, von Krankheit körperlich geschwächt und innerlich zerrüttet, am Strand zusammenbricht und mit dem Blick auf Tadzio stirbt.
Einordnung
Thomas Mann zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein Werk bewegt sich zwischen bürgerlicher Kulturkritik, ironischer Distanz und tiefgründiger Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst, Moral und Dekadenz. Manns Novelle Der Tod in Venedig ist ein Schlüsselwerk der literarischen Moderne und zählt zu den bedeutendsten Prosatexten des 20. Jahrhunderts (vgl. Kurzke 2010, S. 42f.).
Er setzt sich mit den Spannungen zwischen bürgerlicher Ordnung und künstlerischer Existenz auseinander. Die Figur Gustav von Aschenbach verkörpert das Ideal des disziplinierten, erfolgreichen Künstlers, dessen Begegnung mit der Schönheit Tadzios zum Zerfall seiner Selbstkontrolle und zum Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen führt (vgl. ebd. S. 118ff.; Krotkoff 1967, S. 447ff.). Die dekadente Atmosphäre Venedigs und die Cholera-Epidemie spiegeln den kulturellen Verfall und die Krise der Moderne wider. Der Text ist reich an symbolischen und mythologischen Motiven. Aschenbachs Name verweist bereits auf das zentrale Motiv von Tod und Vergänglichkeit („Asche“, „Bach“). Figuren wie der Gondoliere und der Straßensänger sind als Todesboten und mythische Begleiter lesbar. Die explizite Bezugnahme auf Platons „Phaidros“ und die Idee der Liebe zur Schönheit verankern die Novelle in einem philosophischen Diskurs, der Kunst, Leidenschaft und Selbstzerstörung verhandelt. Aschenbachs Fixierung auf Tadzio ist nicht nur Ausdruck unterdrückter Homosexualität, sondern auch Symbol einer existenziellen wie ästhetischen Krise: Der alternde Künstler begegnet im Jungen dem Ideal reiner Schönheit, das jedoch unzugänglich bleibt und ins Verderben führt. Stilistisch ist Manns Prosa von Anspielungen auf klassische Antike, Philosophie und Ästhetik durchzogen. Die Novelle reflektiert zudem zentrale Themen der Psychoanalyse, insbesondere das Spannungsfeld zwischen Trieb und Kultur, welches schließlich in der Darstellung der inneren Zerrissenheit und des Identitätsverlusts endet, jeweils im Kontext der Künstlerproblematik der Moderne zu lesen (vgl. Kurzke 2010, S. 124f.).
Manns Erzählstil zeichnet sich durch eine kunstvolle Mischung aus ironischer Distanz, auktorialer Übersicht und dichter Bildsprache aus. Die Novelle nutzt komplexe Satzstrukturen und eine gehobene, symbolisch aufgeladene Sprache. Der Tod in Venedig ist ein vielschichtiger Text, der symbolistische, mythologische und philosophische Elemente mit gesellschaftskritischen Reflexionen verbindet. Die Novelle bleibt ein paradigmatisches Beispiel für die literarische Verarbeitung von Schönheit, Verfall und existenzieller Grenzerfahrung in der Moderne.
Literaturangaben
- Krotkoff, Hertha: Zur Symbolik in Thomas Mann „Tod in Venedig“. In: MLN 82/4 (1967), S. 445–453.
- Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. 4. überarb. und aktualis. Aufl. München: Beck 2010.
Ausgaben
- Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. Hg. und textkritisch durchges. V. Terence Reed. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 501–592. (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001 ff., Bd. 2.1) (SDP-Bibliothek, Signatur: W-MA 50 1/8:2,1 und X-M 0.2a:2,1 Ausleihbibl.)
- Mann, Thomas (1992): Der Tod in Venedig. Novelle. Frankfurt a.M.: S. Fischer. (Taschenbuchausgabe)
- Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Hg. v. Michael Scheffel. Stuttgart: Reclam 2026.
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Blödorn, Andreas / Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2015.
- Das Bundesarchiv (2025): Nobelpreisträger und NS-Gegner: Der Schriftsteller Thomas Mann (1875-1955) (15.10.2025).
Lesedauer
- Seitenzahl: ca. 130 Seiten
- individuelle Lesezeit: 5–8 Stunden
Leseprobe
„Wohl möglich, dass Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen, denn plötzlich ward er gewahr, dass jener seinen Blick erwiderte und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben, und den Blick des andern zum Abzug zu zwingen, dass Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen Entschluss, des Menschen nicht weiter achtzuhaben.“
(Zitat: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2008/2025; frei verfügbare Leseprobe des S. Fischer Verlags)
Was finde ich an dem Text interessant?
Der Tod in Venedig hat mich durch seine präzise und psychologisch dichte Darstellung eines inneren Zerfalls fasziniert. Dennoch empfand ich die Erzählweise an manchen Stellen als zu distanziert und symbolisch, was den Zugang zum Protagonisten erschwerte. Insgesamt ist die Novelle ein kunstvolles Werk, das zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten bietet und lange nachwirkt.
Torben Henze (M.Edu.-Studierender)