Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891). Drama

Inhalt


Das Drama Frühlings Erwachen schildert die Lebenswelt Jugendlicher im ausgehenden 19. Jahrhundert und ihre Konfrontation mit Sexualität, Aufklärung und repressiven gesellschaftlichen Normen. Im Zentrum stehen die Figuren Melchior, Moritz und Wendla. Melchior gilt als aufgeklärt und kritisch, während Moritz mit schulischem Druck, sexueller Verunsicherung und gesellschaftlichen Zwängen ringt. Wendla wiederum bleibt in Unwissenheit über Sexualität und wird durch Melchior schwanger.
Die Jugendlichen erleben eine Konfrontation mit den Tabus ihrer Zeit: Moritz zerbricht am Leistungsdruck und nimmt sich das Leben; Wendla stirbt nach einer von ihrer Mutter erzwungenen Abtreibung. Am Ende steht Melchior, der selbst von Schuldgefühlen gequält wird, vor der Entscheidung zwischen Resignation und Weiterleben. Das Drama enthüllt die zerstörerischen Folgen einer unterdrückenden Sexualmoral, eines autoritären Erziehungssystems und der gesellschaftlichen Heuchelei.

Einordnung


Wedekinds Frühlings Erwachen gilt als zentrales Werk des literarischen Naturalismus und der frühen Moderne. Das Stück lotet die Konflikte und Nöte Pubertierender aus und übt scharfe Kritik an der autoritären, sexuellen und pädagogischen Ordnung des Wilhelminismus. Aus heutiger Sicht besonders auffällig ist die konsequente Tabubrüchigkeit: Themen wie Schwangerschaft, Abtreibung, Homosexualität, Masturbation und sadomasochistische Neigungen werden nicht nur angedeutet, sondern explizit gezeigt und problematisiert (vgl. Spittler 2003, S. 15ff.)
Wedekind bricht bewusst mit klassischen Dramenkonventionen: Der Handlungsverlauf überschreitet die Einheiten von Zeit und Raum, die Figuren sind oft typisiert und an gesellschaftlichen Konflikten ausgerichtet. Durch den Kontrast zwischen jugendlicher, lebensnaher, oft naiver Sprache und der satirischen Überzeichnung der Erwachsenen (z. B. Namensgebung wie „Rektor Sonnenstich“, „Pastor Kahlbauch“) entsteht ein kritischer, teilweise auch komischer Blick auf die bürgerliche Erwachsenenwelt (vgl. Florack 1997, S. 332ff.).
Das Drama prangert einerseits den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität an, andererseits markiert es einen Epochenumbruch: Die Realitätsnähe und die psychologische Zeichnung der Figuren stehen beispielhaft für den Naturalismus. Dennoch sind auch symbolistische sowie expressionistische Züge erkennbar: Das Aufeinandertreffen von Lebenstrieb und Todessehnsucht gipfelt in der Schlussszene, in der der „vermummte Herr“ als Symbol einer utopischen Vernunft den suizidgefährdeten Melchior rettet (vgl. Schlör 1992, S. 13ff.).
In der Wirkungsgeschichte war das Stück wegen seiner Tabuthemen jahrzehntelang zensiert. Heute gilt es als Meilenstein für die Entwicklung einer modernen, kritisch-emanzipatorischen Jugend- und Sexualpädagogik.

Literaturangaben


  • Florack, Ruth: Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. In: Dramen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam1997, S. 329-345.
  • Schlör, Irene: Pubertät und Poesie. Das Problem der Erziehung in den literarischen Beispielen von Wedekind, Musil und Siegfried Lenz. Konstanz: Wisslit-Verlag 1992.
  • Spittler, Horst: Frank Wedekind, Frühlings Erwachen. Interpretation. München: Oldenbourg 2003.


Ausgaben


  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. In: Frank Wedekind: Werke. Hg. mit Nachwort, Anmerkungen und Zeittafel versehen v. Erhard Weidl. München: Winkler 1990. (SDP-Bibliothek, Signatur: W-WE 15 1/10:1; X-Wed 0.2:1 Ausleihbibl.)
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart: Reclam 2000. (SDP-Bibliothek, Magazin: E-5 13/ 319:15 Mag Reclam)
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie. Hg. von Dagmar v. Hoff. Göttingen: Wallstein 2020.


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


  • Seitenzahl: ca. 120 Seiten
  • individuelle Lesezeit: 3–5 Stunden


Leseprobe


„WENDLA:
Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
FRAU BERGMANN:
Du wirst vierzehn Jahr heute!
WENDLA:
Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden.“
(Akt 1, Szene 1)

(Zitat: Zeno.org: Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 97)

Was finde ich an dem Text interessant?


Frühlings Erwachen hat mich durch die eindringliche und schonungslose Darstellung der Konflikte von Jugendlichen in einer repressiven Gesellschaft emotional sehr angesprochen. Trotzdem finde ich, dass die teilweise stark typisierten Figuren und die dramatische Zuspitzung der Themen gelegentlich den Zugang erschweren und mehr Differenzierungen hätten vertragen können. Insgesamt ist das Stück ein kraftvolles und relevantes Drama, dessen Tabubrüche auch heute noch nachwirken.

Torben Henze (M.Edu.-Studierender)