Georg Büchner: Woyzeck (1836). Drama
Inhalt
Woyzeck ist ein fragmentarisches Drama, das das Leben des einfachen Soldaten Franz Woyzeck zeigt. Woyzeck lebt in einer Kleinstadt und hat mit Armut, Ausgrenzung und ständiger Demütigung zu kämpfen. Um seine Lebensgefährtin Marie und ihr gemeinsames uneheliches Kind zu versorgen, arbeitet er zusätzlich als Diener für seinen Hauptmann und lässt an sich medizinische Experimente durchführen. Der Arzt zwingt ihn, sich nur von Erbsen zu ernähren, was seinen Gesundheitszustand immer weiter verschlechtert. Zwischen ständigen Demütigungen, wachsender psychischer Zerrüttung und Halluzinationen verliert Woyzeck zunehmend den Bezug zur Realität. Als er erfährt, dass Marie ihn mit einem Tambourmajor betrügt, steigern sich seine Wahnvorstellungen zu inneren Stimmen, die ihn zum Mord drängen. In einem Akt verzweifelter Selbstbehauptung lockt er Marie an den Rand eines Teichs und ersticht sie.
Einordnung
Georg Büchner (1813–1837) gilt als einer der wichtigsten politischen Dramatiker des Vormärz. Er war ein engagierter revolutionärer Demokrat und zugleich ein bedeutender Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Während seines Studiums engagierte er sich politisch, musste jedoch nach dem Scheitern seiner revolutionären Aktivitäten ins Exil fliehen (Hermand 2000, S. 395). Woyzeck ist sein letztes literarisches Werk und entstand vermutlich im Sommer und Herbst 1836. Es wurde erst 1879 postum veröffentlicht und 1913 im Münchner Residenztheater erstmals aufgeführt. Seitdem ist das Drama vielfach übersetzt und immer wieder neu interpretiert worden. Heute gilt es als eines der einflussreichsten Werke der deutschen Literatur und als Schlüsseltext der literarischen Moderne. Das Stück basiert auf mehreren realen Mordfällen, die Büchner dazu veranlassten, die Frage nach der geistigen Zurechnungsfähigkeit eines Täters in den Fokus zu rücken (Steinberg / Schmindeler 2006, S. 339). Seine wichtigste Vorlage war der Fall des Johann Christian Woyzeck, der in Leipzig aus Eifersucht seine Geliebte erstach. In der Figur Woyzeck verdichtet Büchner die Problematik der Zurechnungsunfähigkeit exemplarisch, da an ihm verhandelt wird, ob ein Mensch, der Anzeichen psychischer Instabilität zeigt, überhaupt schuldfähig sein kann. Die damit verbundene Diskussion gehörte zu den stark polarisierten Debatten der Zeit und verweist auf tiefgreifende Veränderungen im Verständnis von Rechtsprechung, psychischen Erkrankungen und philosophischen Vorstellungen über menschliche Verantwortung (ebd.).
Besonders charakteristisch für Woyzeck ist die fragmentarische Überlieferung. Der handschriftliche Text blieb unvollständig, da Büchner früh verstarb und existiert lediglich in einzelnen Entwürfen, wodurch die chronologische Abfolge der Szenen nicht eindeutig festgelegt ist und Editionen und Inszenierungen auf unterschiedlichen Ordnungsmodellen basieren (Elema 1965, S. 313 f.). Der fragmentarische Charakter ist daher nicht nur editorisch relevant, sondern prägt auch das Verständnis des Dramas selbst, da die offene Struktur die innere Zerrissenheit und soziale Desorientierung des Protagonisten formal widerspiegelt.
Literaturangaben
- Elema, J.: Der verstümmelte Woyzeck. In: Neophilologus 49 (1965), S. 131–156.
- Hermand, Jost: Extremfall Büchner. Versuch einer politischen Verortung. In: Monatshefte 92/4 (2000), S. 395–411.
- Steinberg, Holger / Sebastian Schmideler: Eine wiederentdeckte Quelle. Zu Büchners Vorlage zum Woyzeck. Das Gutachten der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. In: Zeitschrift für Germanistik 16/2 (2006), S. 339–366.
Ausgaben
- Büchner, Georg: Woyzeck. Text. Hg. v. Burghard Dedner u.a. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2005. (= Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Marburger Ausgabe. Bd. 7, Teil 1.)
(SPD-Bibliothek, Signatur: V-BU 20 1/12:7,1 Mag Großformat) - Büchner, Georg: Woyzeck. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Hg. v. Heike Wirthwein. Ditzingen: Reclam 2021. (SPD-Bibliothek, Signatur: V-BU 20 4/18)
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Borgards, Roland / Harald Neumeyer (Hg.): Büchner-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009.
- Knapp, Gerhard P.: Georg Büchner. Stuttgart 2000.
- Wittkowski, Wolfgang: Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. Heidelberg 1978.
- Georg Büchner-Portal
- Verfilmung: Herzog, Werner (Drehbuch, Regie, Produktion): Woyzeck. Deutschland 1979.
Lesedauer
- Seitenzahl: 38 Seiten
- individuelle Lesezeit: 1 Stunden
Leseprobe
DOCTOR.
Was erleb' ich Woyzeck? Ein Mann von Wort.
WOYZECK.
Was denn Herr Doctor?
DOCTOR.
Ich hab‘s gesehn Woyzeck; Er hat auf die Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund. Und doch 2 Groschen täglich. Woyzeck das ist schlecht. Die Welt wird schlecht, sehr schlecht.
WOYZECK.
Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt.
DOCTOR.
Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab‘ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! Schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab. Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? – Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul.
Woyzeck muß Er nicht wieder pissen? Geh‘ Er eimal hinein und probir Er‘s.
WOYZECK.
Ich kann nit Herr Doctor.
DOCTOR
mit Affect.
Aber an die Wand pissen! Ich hab‘s schriftlich, den Akkord in der Hand. Ich hab‘s gesehn, mit dießen Augen gesehn, ich steckt grade die Nase zum Fenster hinaus und ließ die Sonnstrahlen hineinfallen, um das Niesen zu beobachten. Tritt auf ihn los. Nein Woyzeck, ich ärgre mich nicht, Ärger ist ungesund, ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig ganz [174] ruhig, mein Puls hat seine gewöhnlichen 60 und ich sag‘s Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte wer wird sich über einen Menschen ärgern, ein Menschen! Wenn es noch ein proteus wäre, der einem krepirt! Aber Er hätte doch nicht an die Wand pissen sollen –
WOYZECK.
Sehn Sie Herr Doctor, manchmal hat einer so n‘en Character, so n‘e Structur. – Aber mit der Natur ist‘s was anders, sehn Sie mit der Natur Er kracht mit den Fingern. das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel ...
DOCTOR.
Woyzeck, Er philosophirt wieder.
WOYZECK
vertraulich.
Herr Doctor haben Sie schon was von der doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist als ging die Welt in Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!
DOCTOR.
Woyzeck, Er hat eine aberratio.
WOYZECK
legt den Finger an die Nase.
Die Schwämme Herr Doctor. Da, da steckts. Haben Sie schon gesehn in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt.
DOCTOR.
Woyzeck Er hat die schönste aberratio mentalis partialis, die zweite Species, sehr schön ausgeprägt. Woyzeck Er kriegt Zulage. Zweite Species, fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand, Er thut noch Alles wie sonst, rasirt sein Hauptmann?
WOYZECK.
Ja, wohl.
DOCTOR.
Ißt sei Erbse?
WOYZECK.
Immer ordentlich Herr Doctor. Das Geld für die Menage kriegt mei Frau.
DOCTOR.
Thut sei Dienst?
WOYZECK.
Ja wohl.
DOCTOR.
Er ist ein interessanter casus. Subject Woyzeck Er kriegt Zulag. Halt Er sich brav. Zeig Er sei Puls! Ja.
(Zitat: TextGrid Repository (2012). Georg Büchner: Dramen. Woyzeck. TextGrid Digitale Bibliothek)
Was finden wir an dem Text interessant?
Das Drama Woyzeck war für uns besonders interessant zu lesen, da es einen unmittelbaren Einblick in die zerrissene Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten bietet. Die fragmentarische Struktur des Textes verstärkt dabei das Gefühl von Unruhe und Orientierungslosigkeit, das Woyzeck selbst erlebt. Durch die kurzen, teils abrupten Szenen entsteht der Eindruck einer Welt, in der Woyzeck ständig zwischen äußerem Druck und innerer Verzweiflung schwankt.
Faszinierend fanden wir vor allem, wie deutlich sich seine soziale Ausgrenzung und seine zunehmende psychische Belastung in der Sprache widerspiegeln. Viele Gespräche wirken zunächst irritierend oder widersprüchlich, eröffnen aber gleichzeitig einen tieferen Zugang zu seinem inneren Konflikt. Besonders betroffen machte uns, wie wenig Verständnis ihm entgegengebracht wird und wie machtlos er den Erwartungen und Demütigungen seiner Umwelt ausgesetzt ist.
Annika Bührmann (M.Edu.-Studierende) und Yang Luo (M.A.-Studierende)