Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888). Novelle

Inhalt


Die zentrale Thematik stellt das seelische Zerbrechen eines pflichtbewussten, einfachen Bahnwärters an familiären und psychischen Belastungen dar. Im Mittelpunkt steht der Bahnwärter Thiel, der nach dem Tod seiner Frau Minna die Magd Lene heiratet, welche die neue Mutterrolle für seinen Sohn Tobias einnehmen soll. Doch Lene erweist sich als gefühlskalt und gewalttätig gegenüber Tobias, während Thiel diszipliniert seiner Arbeit nachgeht. Als er eines Tages mitbekommt, wie Lene seinen Sohn schlägt, gerät er innerlich immer stärker in einen Konflikt zwischen seiner pflichtbewussten Rolle als Bahnwärter und der aufgestauten Wut gegenüber seiner Frau. Als Tobias von einem Zug überrollt wird und stirbt, macht Thiel Lene dafür verantwortlich, da diese auf ihn aufpassen sollte. Infolge seines geistigen Zusammenbruchs tötet Thiel seine Frau und das gemeinsame Kind, woraufhin er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird.

Einordnung


Gerhart Hauptmanns (1862–1946) Bahnwärter Thiel erschien 1888 und gilt als eines der zentralen Werke des deutschen Naturalismus. Diese Bewegung, die sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahnhunderts entwickelte, verstand Literatur als möglichst wirklichkeitsgetreue Abbildung der sozialen, psychologischen und biologischen Bedingungen des menschlichen Lebens: „Im Unterschied zu den Realisten verzichteten Naturalisten […] auf jegliche Versöhnung mit der Realität.“ (Beutin et al. 2019, S. 352) Entsprechend dem Naturalismus beschreibt Hauptmann das einfache, von harter Arbeit geprägte Leben Thiels in einer ländlichen Umgebung. Seine Erzählung lässt sich als Versuch verstehen, das menschliche Verhalten als Ergebnis äußerer Bedingungen und innerer Triebkräfte zu erklären, was ebenfalls der naturwissenschaftlich geprägten Weltsicht der naturalistischen Bewegung entspricht.
Die Sprache, die Hauptmann verwendet, ist nüchtern und durch eine weitgehend distanzierte Erzählweise gekennzeichnet, wodurch die psychischen Veränderungen des Protagonisten beinahe objektiv nachvollziehbar erscheinen. So „liest sich die von Hauptmann explizit als solche gekennzeichnete ‚Novellistische Studie‘ wie die Beschreibung einer psychologischen Fallgeschichte“ (ebd.). Zugleich werden aber durch intensive Naturbeschreibungen Thiels seelische Konflikte und seine zunehmende Zerrissenheit deutlich. Durch die Verknüpfung der sozialen Realität mit psychologischer Tiefe zeigt Hauptmann den Einfluss von Armut, sozialer Isolation und gesellschaftlicher Ordnung auf die geistige Gesundheit eines Individuums. Thiels Zusammenbruch erscheint demnach nicht nur als persönliches Scheitern, sondern auch als Ausdruck gesellschaftlicher und existenzieller Überforderung.
Da Bahnwärter Thiel die zentralen Themen soziale Not, psychische Belastung und das Scheitern des Individuums an äußeren Zwängen mit einer für den Naturalismus typischen Erzählweise vereint, zählt es zu den kanonischen Werken dieser literarischen Bewegung um 1900.

Literaturangaben


  • Beutin, Wolfgang / Matthias Beilein / Klaus Ehlert / Wolfgang Emmerich / Christine Kanz / Bernd Lutz / Volker Meid / Michael Opitz / Carola Opitz-Wiemers / Ralf Schnell / Peter Stein / Inge Stephan: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 9. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 2019.


Ausgaben


  • Hauptmann, Gerhart: Erzählungen, Theoretische Prosa. Hg. v. Hans-Egon Hass. Frankfurt a.M./Berlin: Propyläen 1963 (= Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters. Hg. von Hans-Egon Hass, Martin Machatzke und Wolfgang Bungies. Frankfurt a.M./Berlin: Propyläen 1962–1974, Bd. 6). (SDP-Bibliothek, Signatur: W-HA 80 1/5:6; Ausleihbibliothek: X-H 0.1:6 Ausleihbibl.)
  • Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Hg. v. Volker Neuhaus. Durchges. Ausg. Stuttgart: Reclam 2005. (SDP-Bibliothek, Signatur: E-5 13/319:20 Mag Reclam)


Weiterführende Literatur / Ressourcen



Lesedauer


  • Seitenzahl: 49 Seiten
  • individuelle Lesezeit: ca. 1 Stunde, 15 Minuten


Leseprobe


Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau, ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oderkrank war und zu Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen; das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der Kirche fern zu halten.
         Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen. Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepasst hatte. Und wiederum eines schönen Sonntagnachmittags reichte er dieser selben Person am Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter gebräunten in das uralte Gesangbuch –; und plötzlich saß der Bahnwärter wieder allein wie zuvor.
         An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet; das war das Ganze.


(Zitat aus der frei zugänglichen Leseprobe der Verlagsgruppe Pengiun.de; Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. In: Ders.: Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag 2017, S. 33–70, hier S. 35)

Was finde ich an dem Text interessant?


Das Lesen von Bahnwärter Thiel hinterlässt einen tief bewegenden Eindruck. Besonders die Schilderung der Gewalt, die Lene dem Kind zufügt, wirkt erschütternd und erzeugt eine intensive emotionale Beteiligung. Durch die eindringliche Darstellung von Thiels innerem Leiden und seiner wachsenden Verzweiflung gelingt es Hauptmann, eine starke Empathie der Lesenden hervorzurufen. Der Tod des Kindes stellt den tragischen Höhepunkt der Erzählung dar und verstärkt die emotionale Wirkung des Textes, die lange nachwirkt.

Annika Bührmann (M.Edu.-Studierende)