Europäische Tagebuchliteratur

Komparatistik - finanziert aus Studiengebühren
HS; Mo 14:15-15:45, VG 3.106

Die Geschichte des Tagebuchs ist die Geschichte der modernen Subjektivität. Als vornehmlich protestantische Einrichtung setzt die Tagebuchkultur im 17. Jahrhundert ein, zunächst vor allem in Form von subjektiv-beobachtenden Memorialbüchern und als Mittel zur religiösen und aufklärerischen Selbsterforschung. Mit dem Schwinden der Alleinstellung von Glauben und Vernunft als letztverbindliche Determinanten für das Konzept der Person erweitert sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das Spektrum der Selbstentwürfe und damit auch die Formenvielfalt der Tagebücher. Im Verlauf dieser Individualisierungstendenz kommt es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst zu einer charakteristischen Zerfaserung der Gattung, die sich schließlich zum Medium einer kaum noch moralischen, sondern vielmehr rein egozentrierten Selbstprüfung wandelt. Schließlich entdecken moderne und postmoderne Autoren das Tagebuch als interessantes Experimentierfeld, in dem sich das als "Wortspiel" (Nietzsche) in Frage gestellte Subjekt selbst entwirft.
Unter Berücksichtigung der gattungstheoretischen Diskussion und in Abgrenzung zu anderen autobiographischen Schreibweisen möchte das Seminar die Geschichte des Tagebuchs in ihrem Verhältnis zur Entwicklung der modernen Subjektivität von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne anhand exemplarischer Einzelanalysen skizzieren. Die europäische Perspektive ermöglicht dabei den Blick auf kulturelle Wechselverhältnisse, die vor dem Hintergrund ihres jeweiligen geistes- und kulturgeschichtlichen Kontextes in die Analysen einbezogen werden sollen. Im Mittelpunkt der (notwendigerweise stark selektiven) Seminarlektüre stehen u.a. Ausschnitte aus den Diarien von Daniel Defoe, Samuel Pepys, Johann Caspar Lavater, Georg Christoph Lichtenberg, Novalis, Stendhal, Friedrich Hebbel, Franz Kafka, Paul Valéry, Max Frisch, Rainald Goetz.
Literatur: Die Primärliteratur wird in einem Reader bereitgestellt. Eine Einführung in die Gattung und eine umfangreiche Anthologie liefert Gustav René Hocke: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Wiesbaden, München 1986, darin das Kapitel "Grundmotive europäischer Tagebücher. Beiträge zu einer vergleichenden Literaturgeschichte". Als systematischer Überblick empfiehlt sich die Arbeit von Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt 1990. Den hier relevanten Kontext erschließt Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt a. M. 1998.