In publica commoda

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen, am Dienstag, 14. Juni 2005, in Göttingen


14. Juni 2005

Sehr geehrter Herr Professor von Figura,
sehr geehrter Herr Professor Braus,
sehr geehrter Herr Professor Pieler,
sehr geehrter Herr Minister Stratmann,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Dies ist für mich ein ganz besonderer Tag an einem eigentlich vertrauten Ort. Hier in Göttingen habe ich als Studierender - damals hieß das noch Student - eine schöne, unvergessliche und vor allem sehr lehrreiche Zeit verbracht. Der Zweite Bildungsweg hat es mir ermöglicht, hier an der Universität mein Jurastudium zu absolvieren. Ich betone das deshalb, weil ich den freien Zugang zur Bildung - unabhängig von der Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern - für eine herausragende Errungenschaft, für ein Wesensmerkmal der sozialen Demokratie halte. Dieser freie Zugang zur Bildung gehört zur Erfolgsgeschichte dieses Landes - politisch übrigens wie ökonomisch.

Ich bin mir bewusst darüber, dass mein Studium mir viele Möglichkeiten eröffnet hat, die mir ohne akademischen Abschluss vermutlich verwehrt geblieben wären. Ich weiß aus eigener unmittelbarer Erfahrung, dass Bildungschancen Lebenschancen sind. Wenn wir auch in Zukunft wirtschaftlich, wissenschaftlich, vor allem auch kulturell erfolgreich sein wollen, dann müssen wir das Potenzial an Talenten, an Begabungen und Fähigkeiten in unserem Land voll ausschöpfen. Wir dürfen darum in der Bildungspolitik keine neuen sozialen Barrieren errichten, sondern müssen alte Barrieren weiter abbauen.

Meine Damen und Herren, dass mir "meine" Alma mater heute die Ehrendoktorwürde verleiht, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Besonders weil mir, dem Juristen, diese Anerkennung seitens der Naturwissenschaften zuteil wird. Ich erinnere mich sehr genau: hier, an der Georgia-Augusta, hat sich für mich in meinen Studienjahren auch eine Welt aufgetan, der ich seither mit hohem Respekt und kritischer Bewunderung zugetan bin. Vielleicht auch deshalb, weil ich als Jurist ziemlich wenig von ihrem Innenleben verstehe und dennoch gut genug weiß, wie wichtig, ja überlebensnotwendig sie für unser Land ist. Ich meine die Welt der Naturwissenschaften, besonders auch jener Disziplinen, die unter dem Begriff Lebenswissenschaften zusammengefasst sind.

Göttingen war schon damals - und ist es heute erst recht - ein weltweit bekanntes und anerkanntes Exzellenz-Zentrum der biomedizinischen Forschung und Ausbildung. Diesen Ruf haben sich die hier arbeitenden Forscherinnen und Forscher durch ihre herausragenden Leistungen im Bewusstsein einer langen Tradition immer wieder aufs Neue verdient. Allein schon die Zahl der Nobelpreise, die an Forscher aus Göttingen vergeben worden sind, ergibt eine eindruckvolle Bilanz. Einrichtungen wie das GZMB, das Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften, wo Stärken in Forschung und Lehre fakultätsübergreifend gebündelt werden, haben das Profil eines weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Standortes wissenschaftlicher Spitzenleistung weiter geschärft.

Meine Damen und Herren, zwischen Forschung und Fortschritt besteht ein enger Zusammenhang. Deswegen umfasst die Agenda 2010 weit mehr als die notwendig gewordene Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an den veränderten Altersaufbau unserer Gesellschaft und den verschärften Konkurrenzdruck in der globalisierten Wirtschaft. Es ist gerade das Markenzeichen der Reformen der Agenda 2010, dass durch sie Ressourcen für Investitionen in die Zukunft unseres Landes freigemacht werden. So haben wir trotz schwieriger Kassenlage den Haushalt für Forschung und Bildung kräftig erhöht. Nach jahrelangem Stillstand, sogar Rückgang, unter der Vorgängerregierung haben wir die Ausgaben in diesem Bereich seit 1998 um mehr als 36 Prozent auf rund 10 Milliarden Euro in diesem Jahr gesteigert. Die Ausgaben für die Hochschulen wurden seit 1998 um 23 Prozent erhöht.

Und wir haben drei zentrale Vorhaben für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes auf den Weg gebracht: Erstens: Mit dem Pakt für Forschung und Innovation schlagen wir vor, die Etats der großen Forschungsorganisationen auf Jahre planbar zu steigern. Im Gegenzug wollen die Forschungseinrichtungen die Vernetzung mit der Wirtschaft, die Internationalität und die Nachwuchsförderung stärken. Zweitens: Auch für den Wettbewerb "Spitzenuniversitäten" liegt ein fertiger Vorschlag auf dem Tisch. Der Bund ist bereit, maßgeblich die Finanzierung zu übernehmen. Drittens: Wir wollen die Eigenheimzulage abschaffen, um bis zum Jahr 2010 rund 15 Milliarden Euro zusätzlich für Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen freizumachen. Mit diesen drei Maßnahmen könnten die finanziellen Rahmenbedingungen für Forschung und Bildung in unserem Land grundlegend verbessert werden. Leider werden diese Vorschläge im Bundesrat zum Teil immer noch blockiert, weil CDU und CSU irrigerweise glauben, diese destruktive und obstruktive Haltung sei wahltaktisch klüger. Man mag vielleicht darüber streiten, ob das einer Partei nützt. Keinen Zweifel allerdings gibt es daran, dass die Blockade im Bundesrat dem Land und den Menschen schadet.

Meine Damen und Herren, Geld ist, wie Wissenschaftler gern sagen, zwar eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung für gute Forschung. Der gesellschaftliche und der gesetzliche Rahmen, und damit die Politik, spielen eine ebenso bedeutende Rolle. Und das gilt vor allem für die biologische und medizinische Forschung, wo es um Lebensthemen wie Ernährung und die Gesundheit von morgen geht, um Gen- und Biotechnik, um Forschung an adulten und embryonalen Stammzellen, ja um die Zukunft des Menschen schlechthin. Die stürmische Entwicklung, gerade der vergangenen Jahre, hat uns deutlich vor Augen geführt, dass es in diesem Bereich keine letztlich ewigen oder endgültigen Antworten geben kann.

Im Gegenteil: Es liegt buchstäblich in der Natur der Sache, dass gesetzliche Regelungen wissenschaftlicher Sachverhalte im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen immer wieder überprüft und bei Bedarf auch angepasst werden müssen. Gerade bei so grundsätzlichen Fragen wie der Nutzung der Gentechnik brauchen wir elementar die Offenheit für immer wieder neue Abwägungen und Entscheidungen. Damit wir uns den neuen Herausforderungen stellen können, habe ich vor vier Jahren nach dem Vorbild anderer Länder den Nationalen Ethikrat berufen. Unabhängige Experten aus Biologie und Medizin, Religion, Philosophie und Rechtswissenschaft setzen sich im Ethikrat mit den aktuellen Fragen auseinander, die der Fortschritt immer wieder aufwirft. Diese Beratung ist notwendig, denn die Entwicklungen in den Instituten und Laboren geben ein Tempo vor, bei dem Politik und Gesellschaft nicht den Anschluss verliefen dürfen.

Hinzu kommt, dass die neuen Erkenntnisse, Verfahren und damit auch die entstehenden neuen Fragen, die uns Antworten abverlangen, immer öfter von außen kommen - aus den USA, aus England, aus Israel, aus Australien, neuerdings auch häufiger aus Asien. Wir müssen rasch Antworten geben, damit wir von der Entwicklung nicht abgehängt werden. Wir dürfen uns in der Bio- und Gentechnik nicht vom Fortschritt in der internationalen Forschung abkoppeln. Dann wären wir von der Mitsprache über die Nutzung und der Kontrolle der Verfahren ausgeschlossen. Die Forschung indes würde andernorts weitergehen. Und womöglich in einer Art und Weise vorangetrieben, bei der ethische Überlegungen praktisch gar keine Berücksichtigung finden.

Meine Damen und Herren, Deutschland darf in der Gentechnik den Anschluss nicht verpassen - wie früher bei der Informationstechnologie. Was wurde damals mit dem Zaudern, als sich längst abzeichnete, dass sich diese Entwicklung durchsetzt, denn erreicht? Die besten Köpfe wanderten ab, wesentliche Fortschritte wurden woanders erzielt, wirtschaftliche Potenziale woanders entwickelt. Diese Entwicklung konnten wir erst in den vergangenen Jahren stoppen und sogar umkehren.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat die Förderung der Biotechnologie zu einem Schwerpunkt ihrer Forschungspolitik gemacht. Die gesamten Mittel, die für die Lebenswissenschaften - also Gesundheitsforschung, Biotechnologie und Biomedizin - bereitstehen, übersteigen jährlich inzwischen 1 Milliarde Euro. Der biomedizinische Fortschritt, vor allem auch jener, der nur auf Grund gentechnischer Verfahren möglich war und ist, hat das enorme Potenzial der Biotechnologie ein ums andere Mal unter Beweis gestellt. Wir stehen nicht erst am Anfang der Entwicklung, sondern befinden uns mitten in ihr. Das betrifft etwa die verbesserte Diagnostik und die Entwicklung neuartiger Medikamente und Impfstoffe. Es geht aber auch um neue Herstellungsverfahren in der pharmakologischen und chemischen Industrie, um verbessertes Saatgut und veränderte Nutzpflanzen, die vielleicht auch für Länder der Dritten Welt von Nutzen sein können.

Vor allem die rasante Entwicklung bei der Forschung mit Stammzellen weckt Erwartungen und Hoffnungen, von denen wir heute nicht mit Gewissheit sagen können, dass sie sich erfüllen werden. Aber es handelt sich um eine Forschung, von der wir uns durchaus erhoffen dürfen, dass sie neue Medikamente und Heilverfahren bei bislang unheilbaren Erkrankungen hervorbringen kann. Wir mussten im übrigen in der Vergangenheit erleben, dass Forscher, die sich für die Arbeit mit embryonalen Stammzellen ausgesprochen haben, öffentlich als gewissenlos oder geltungssüchtig diffamiert wurden. Ich finde diese Kritik in keiner Weise akzeptabel. Vielleicht sollten wir uns gelegentlich doch daran erinnern, dass die Freiheit von Wissenschaft und Forschung aus gutem Grund besonders geschützt ist. Und ich finde es anmaßend, die Motive dieser Biologen und Mediziner in Zweifel zu ziehen. Sie stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?

Meine Damen und Herren, Gefahren und Ängste auf der einen, Chancen und Hoffnungen auf der anderen Seite: wohl selten liegen beide Pole so nah beieinander wie bei Gentechnik. Die widerstreitenden Interessen zwischen Gesundheit, Ökologie, Verbraucherschutz, Wirtschaft und Forschung können nur in einem breiten gesellschaftlichen Dialog gegeneinander abgewogen werden. Die Frage, ob wir dürfen, was wir können, muss von Wissenschaftlern und Politikern, vor allem aber von den Bürgerinnen und Bürgern, also der ganzen Gesellschaft in Deutschland diskutiert und entschieden werden.

Ich weiß um Ängste und Bedenken, ganz gleich, ob sie aus christlichen und ethischen Motiven stammen, aus Sorgen um die Umwelt oder aus einer Skepsis gegenüber neuen Technologien, deren mögliche Folgen sich noch nicht genau abschätzen lassen. Aber sich den Chancen des wissenschaftlichen Fortschritts zu verschließen, nur weil es auch Risiken gibt oder weil die Risiken nicht vollständig überschaubar sind, halte ich persönlich für den falschen Weg. Und das gilt insbesondere bei einer Technologie, bei der wir noch in der Weltspitze dabei sind und einen führenden Platz einnehmen können. Das heißt für mich: Wir sollten verstärkt auf die Chancen setzen. Wir dürfen der Wissenschaft nicht vorschnell Optionen aus der Hand nehmen.

Meine Damen und Herren, gerade die aktuellen Meldungen zur Stammzellenforschung aus Großbritannien und Südkorea zeigen uns, wie schnell wir vor Situationen gestellt sein können, die neue Diskussionen und Entscheidungen erzwingen. Solange das große medizinische Potenzial der Stammzellenforschung nicht ausgelotet ist, und zwar mit adulten wie mit embryonalen Stammzellen, solange die Chance besteht, Leiden lindern und heute noch unheilbare Krankheiten bekämpfen zu können, haben wir die Pflicht, diese Forschung zu nutzen. Wir müssen der Chance eine Chance geben.

Wer dazu nein sagt, muss mindestens eine Konsequenz bedenken: Wie verhalten wir uns, wenn irgendwann einmal die erste auf der Grundlage der Forschung an embryonalen Stammzellen entwickelte Therapie gegen bisher unheilbare Krankheiten in Europa oder anderswo auf den Markt kommt? Wollten wir ernsthaft den Import eines solchen Medikaments verbieten? Wenn sich die Hoffnungen und Versprechen erfüllen, und sei es nur in Teilbereichen, dann wird der Beginn des 21. Jahrhunderts einmal als Meilenstein im medizinischen Fortschritt gefeiert werden. Gerade die Gesundheitsforschung birgt ein hohes Potenzial an wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Innovation.

Mit dem Stammzellengesetz aus dem Jahr 2002 haben wir uns in Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich auf die Seite der restriktiven Länder gestellt. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns, besonders im Lichte neuer Erkenntnisse, der Tendenz zu einer Liberalisierung der Forschung mit embryonalen Stammzellen auf Dauer nicht entziehen können. Die Rechtsunsicherheit, der sich Forscher in Deutschland, aber auch deutsche Forscher in internationalen Kooperationen oder im Ausland gegenüber sehen, müssen wir in diesem Zusammenhang ebenfalls sinnvoll auflösen.

Meine Damen und Herren, um die von mir beschriebenen Ziele zu erreichen, brauchen wir den öffentlichen Diskurs von Wissenschaft und Technik, den aktiven Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft. Darum geht es uns mit den Wissenschaftsjahren - angefangen 2000 mit dem "Jahr der Physik" bis hin zum Einstein-Jahr, das wir 2005 begehen. Nicht zuletzt dieser Maßnahme ist es zu verdanken, dass die Zahl der Studierenden in den Naturwissenschaften in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist. Denn gerade von den Naturwissenschaften, aber auch den Ingenieurswissenschaften hängen Innovationsfähigkeit und damit Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land entscheidend ab.

Daher verknüpfen wir ein zentrales Anliegen mit dem Einstein-Jahr - aber auch weit über das Jahr 2005 hinaus: Wir wollen in Deutschland eine neue Kultur der Wissenschaft etablieren. Eine Kultur der Freiheit. Eine Kultur der Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen. Eine Kultur, die Einstein wie kaum ein anderer verkörpert hat, indem er das Prinzip Verantwortung zur obersten Instanz wissenschaftlichen Handelns erhob. Eine Kultur der Internationalität und Weltoffenheit, wie sie der Weltbürger Einstein zeitlebens verfochten hat - als Garant für den Fortschritt von Wissenschaft und Erkenntnis. Und vor allem eine Kultur von Verständnis und Verständigung, die der besseren Wahrnehmung von Wissenschaft in unserer Gesellschaft dient. Und dazu können Sie, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, einen entscheidenden Beitrag leisten.

Meine Damen und Herren, mit der Ehre, die Sie mir heute durch die Verleihung der Doktorwürde in den Naturwissenschaften erweisen, verbinde ich auch eine persönliche Verpflichtung: Ich will mich weiter für eine Kultur der Wissenschaft im Sinne von Verständnis und Verständigung einzusetzen. Und ich will erreichen, dass wir bei neuen Technologien die Chancen, die sich ergeben, verantwortungsvoll nutzen. Und zwar nicht, weil ich glaube, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden muss. Sondern damit alles, was gemacht werden muss, auch gemacht werden kann. Ich danke den Fakultäten für diese hohe Auszeichnung.