NMR- Brücke über den Styx zwischen Festkörper und Lösung

Besonders auf dem Gebiet der reaktiven Intermediate ist es wichtig, Informationen über die beteiligten Spezies, sowohl im Festkörper als auch besonders in Lösung, zu erhalten, weil Änderungen wie Solvatation und Aggregation die Reaktivität und Selektivität, und damit die Produktverteilung, in der organischen Synthese und den Materialeigenschaften maßgeblich beein- flussen. In diesem Bereich arbeiten wir eng mit Dr. Michael John, dem Leiter der NMR-Abteilung der Anorganischen Chemie in Göttingen und Dr. Adam Lange, dem Leiter der Festkörper-NMR-Abteilung des Max-Planck Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen zusammen.
Neben den wohlbekannten Phänomenen wie Solvatation und Ag- gregation, die für alle lithiumorganischen Systeme gelten, müssen auch die Regionen für einen elektrophilen Angriff oder der ste- reochemische Verlauf einer Reaktion aufgeklärt werden (Abb. 1).
In dieser Hinsicht gewährt die Festkörperstrukturanalyse jedoch wenig Einblick in die Thermodynamik der Aggregation und Sol- vatation[1]. Es kann angenommen werden, dass der Kristall aus Lösung das am wenigsten lösliche und nicht notwendigerweise das am häufigsten vertretene, geschweige denn dass reaktivste Derivat im Kolben vertritt. Darüber hinaus kann die am wenigsten vertretene Spezies das Nadelöhr darstellen, durch dass das gesamte Gleichgewicht der Reaktion gezogen wird um letztendlich das erhaltene Produkt zu ergeben.
Jüngst haben wir uns diesem Arbeitsgebiet mit einer Studie über 2-Thienyllithium, koordiniert von verschiedenen Donorbasen und kristallografisch eindeutig bestimmten Aggregationsgraden, ange- schlossen. Wir synthetisierten und kristallisierten unterschiedliche 2-Thienyllithium-Aggregate und bestimmten deren Struktur im Fest- körper. Daraufhin studierten wir deren Konstitution und Verhalten in Lösung mit der 1/2-D Heterokern-NMR-Spektroskopie, ausgehend von kristallografisch gesichertem Terrain[2].


Die Kristalle der Verbindungen

[(Et2O)Li(C4H3S)]4 (1),
[(THF)2Li(C4H3S)]2 (2),
[(DME)Li(C4H3S)]2 (3),
[(TMEDA)Li(C4H3S)]2 (4),
[(PMDETA)Li(C4H3S)] (5)

wurden in nicht-donierendem Toluol gelöst und die Lösung mittels Diffusion Ordered NMR-Spektroskopie (DOSY) und Heteronuclear Overhauser Enhancement NMR-Spektroskopie (HOESY, Abb. 2) untersucht[3].
Die Abstandsrelation der NOEs mit dem Faktor r-6 wurde ange- wendet um weitere Einblicke in die Aggregation von 1-5 in Lösung zu erhalten. Der Vergleich der Steigungen des linearen Bereichs der Aufbaukurven und die nach ∑r-6 berechneten Abstände aus den Kristallstrukturen bietet die Möglichkeit, über die Struktur- erhaltung oder –umwandlung zu entscheiden. Danach bleiben die Strukturen von 3-5 in Lösung erhalten. Die Daten von 2 jedoch legen entweder eine teilweise Dissoziation oder einen schnellen Austausch der Vertexatome eines Tetraeders mit freiem THF nahe. Zusätzliche EXSY Experimente zeigen, dass die Verbindungen 4 und 5, die Stickstoffdonorbasen enthalten, mit den Signalen hydrolysierten, nicht-lithiierten Thiophens austauschen. Zusätzlich wird eine langsame Deuterierung der Thienyl-H5-Position in 4 und 5 beobachtet, begleitet von einer Protonierung der CD3-Gruppe des Lösungsmittels. Dieser Austausch wird durch eine intermediäre Lithiierung eines Toluolmoleküls erklärt.


Die Chemie der gemischten lithiumorganischen Verbindungen steckt immer noch in den Kinderschuhen. Es ist nur wenig bekannt über die in Lösung vertretenen Spezies und nur wenige Studien wurden bislang veröffentlicht. Eine Reaktivitätssteigerung der Gemische gegenüber den einzelnen reinen Verbindungen wird gelegentlich berichtet. Dies beflügelte die Idee, gemischte lithiumorganische Verbindungen genauer zu untersuchen und wir begannen, die Edukte zu synthetisieren und zweifelsfrei mit der Kristallstrukturanalyse zu charakterisieren[4].


Bemerkenswerterweise enthält die Elementarzelle der Verbindung [tBuLi]4·4[Me2NC6H4Li]4 tatsächlich zwei verschiedene lithium- organische Moleküle. Eines ist das [Me2NC6H4Li]4 Tetramer, das zweite ist ein [tBuLi]4. So ein Aggregat aus nebeneinander vor- liegenden Molekülen im selben Kristall ist sehr ungewöhnlich. Im Einklang mit der Festkörperstruktur sollte das 7Li NMR-Spektrum zwei Signale für die beiden homoleptischen Komplexe
[Me2NC6H4Li]4 und [tBuLi]4 zeigen. Das 7Li NMR-Spektrum in D8-Toluol ist jedoch unerwartet kompliziert und zeigt über einen Bereich von 2.5 ppm fünf relativ scharfe, gut aufgelöste Signale und einige nicht zugeordnete breite Signale (Abb.3).
Für weitere Schlußfolgerungen über das 7Li NMR-Spektrum be- trieben wir 7Li Diffusion Ordered Spektroskopie (DOSY). Der mono- ton fallende Diffusionskoeffizient D (vertikale Achse) identifiziert die fünf Signale A-E als zugehörig zu den vorstellbaren Tetrameren

[Me2NC6H4Li]4 (A),
[(Me2NC6H4Li)3(tBuLi)] (B),
[(Me2NC6H4Li)2(tBuLi)2] (C),
[(Me2NC6H4Li)(tBuLi)3] (D),
[tBuLi]4 (E).

Jedes scharfe Signal im 7Li NMR-Spektrum rührt also vom suk- zessiven Ersatz eines ortho-Lithiumanilids durch eine tBuLi Einheit in einem tetrameren Aggregat (Abb. 4).

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[1] D. B. Collum Acc. Chem. Res. 1992, 25, 448.

[2] M.Granitzka, A.-C. Pöppler, E. K. Schwarze, D. Stern, T. Schulz, M. John, R. Herbst-Irmer, S. K. Pandey, D. Stalke J. Am. Chem. Soc. 2012, 134, 1344.

[3] F. T. Edelmann, F. Knösel, F. Pauer, D. Stalke, W. Bauer J. Organomet. Chem. 1992, 438, 1.

[4] A.-C. Pöppler, M. M. Meinholz, H. Faßhuber, A. Lange, M. John, D. Stalke Organometallics 2012, 31, 42.