Universität Göttingen - eine Entwicklung
Göttingen hat Weltruf. Was in dieser Kürze zunächst unbescheiden klingt, ist dennoch im Wortsinne Tatsache: Wo immer man in den wissenschaftlichen Zentren Europas, aber auch und vor allem in Amerika und Asien das Gespräch auf den Namen der niedersächsischen Landesuniversität bringt, wird einem anerkennendes, zumindest aber wissendes Kopfnicken begegnen. Die "kleine Großstadt" beherbergt seit über 260 Jahren eine Forschungsstätte von einer Gewichtigkeit und Ausstrahlungskraft, die schon seit vielen Jahren dazu berechtigt, nicht von einer Stadt mit Hochschule, sondern von einer Universität mit einer Stadt zu sprechen. Auf 130.000 Einwohner kommen über 2.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, knapp 9.000 weitere Mitarbeiter - davon allein über 5.000 im Großklinikum - und über 23.000 Studierende der Georg-August-Universität als Keimzelle der Wissenschaftsregion im Süden Niedersachsens, die mehr denn je als Katalysator für eine Vielzahl weiterer Forschungseinrichtungen und wissenschaftlich-technischer Industrieunternehmen wirkt.
Als Georg II. von England, in Personalunion als Georg August auch hannoverscher Regent, in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts die Gründung einer dem aufklärerischen Denken seiner Epoche verpflichteten Universität im strukturschwachen Süden seines Territoriums vorantrieb, war dies eine Entscheidung von Weitblick: Der Ort freier Forschung und Lehre entwickelte sich dank weitsichtiger Berufungspolitik sehr bald und Jahrhunderte vor Erfindung dieses Begriffs zum „Global Player“, als weltweit ausstrahlende Stätte vor allem naturwissenschaftlicher, aber auch geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung. Eine mit Nachdruck geförderte Bibliothek war deren Basis als überhaupt erste frei zugängliche wissenschaftliche Büchersammlung mit moderner Sammelpolitik. Ihre Bestände rühmte auch Goethe, der zwar seinerzeit nicht an der Stätte kritischen Geistes hatte studieren dürfen, sie aber später mehrfach aufsuchte, als „Kapital, das lautlos unberechenbare Zinsen spendet“. Heute sind daraus über 4 Millionen Medien geworden, die Einrichtung steht damit an quantitativ fünfter Stelle in Deutschland. Als Niedersächsische Staatsbibliothek, Nationalbibliothek für das 18. Jahrhundert mit mehreren Sondersammelgebieten, Standort des Niedersächsischen Bibliotheksrechenzentrums sowie Zentrale des Bibliotheksverbundes mehrerer Bundesländer erfüllt sie zentrale Aufgaben. Der 1992 eröffnete Neubau im Zentrum des Geisteswissenschaftlichen Campus‘, einer der konzeptionell modernsten weltweit und auch ästhetisch ein Meilenstein nicht nur der Göttinger Universitätsarchitektur, bietet der Bibliothek alle Möglichkeiten für die kommenden Jahrzehnte. So ist ein neueingerichtetes Literatur-Digitalisierungszentrum schon jetzt weltweit führend auf dem Gebiet der Online- und Multimedia-Erschließung bisher papierbasierter Dokumente. Gerade hier wird Altes mit Neuem auf aufregende Weise verbunden: Sitz dieser Einrichtung ist das historische Bibliotheksquartier um die Paulinerkirche, die in der Napoleonischen Zeit als Büchersaal umgebaut wurde. Im Jahr 2000 gelang es anlässlich des Gutenberg-Jahres und der EXPO, den im II. Weltkrieg schwer beschädigten gotischen Raum als Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Bibliothekssaal mit historischem Anklang wiedererstehen zu lassen. Hier ist nun auch die berühmte Göttinger Gutenbergbibel zu bewundern, eines der weltweit vier erhaltenen Pergament-Exemplare, ebenjenes vielleicht vollendetste je gedruckte Buch, das auch als erstes komplett für Internet und CD-ROM digitalisiert wurde. Die angrenzenden Buchmagazine des 19. Jahrhunderts sind seit kurzem als Forschungsbibliothek für Forschungen zur internationalen Wissenschaftsgeschichte wieder zugänglich.
Hunderte von Projekt- und Partnerschaftsbeziehungen zu Hochschulen und Forschungseinrichtungen in aller Welt zeigen, daß Internationalität heute mehr denn je ein profilbildendes Merkmal der Universität ist. Das gilt auch für die Studierenden. Über 10 % von ihnen - das ist bundesweit überdurchschnittlich viel - haben sich vom guten Ruf Göttingens aus dem Ausland hierher locken lassen. Rund 1300 institutionalisierte Studien- und Forschungskontakte auf Institutsebene zu Universitäten rund um den Globus, über 200 Partneruniversitäten allein in Europa sind eine breite Basis dafür, dass auch die deutschen Studenten den Blick über den heimischen Horizont heben können. Wie durchweg bei der Förderung durch die großen nationalen Forschungs- und Austauschorganisationen, so steht Göttingen auch beim Deutschen Akademischen Austauschdienst weit oben auf Liste. Überhaupt lebt und arbeitet es sich angenehm in dieser Stadt ziemlich exakt in der geographischen Mitte Deutschlands, in der so ziemlich alles auf die Kombination von jungen Leute, Lernen und Wissenschaft zugeschnitten ist. Ein gutes Beispiel ist das Studentenwerk, das für Essen, Wohnen und andere soziale Belange der Studierenden zuständig ist und regelmäßig Bestnoten im bundesweiten Wettbewerb erhält. Nirgendwo sonst werden Mensen so stark frequentiert, kaum irgends gibt es relativ zur Studierendenzahl so viele Wohnheimplätze. Auch die Universität selbst hat durch eine Verwaltungsreform im Mai 2000 die Weichen für eine verstärkte Orientierung auf das Wohl der Studierenden gelenkt. Alle für deren Betreuung zuständigen Bereiche wurden in einer Abteilung „Studium und Lehre“ zusammengefasst, was in Zukunft die Gewähr für einen immer besseren Service bei weniger Bürokratie bieten wird. So war Göttingen 1999 eine der ersten Universitäten, die per Online-Immatrikulation den früheren „Papierkram“ bei der Einschreibung fast völlig entfallen ließ; ein anderes Beispiel ist die Einführung von spezieller Software, die in einigen Fächern die Ablegung der Prüfungen transparenter machen wird. Überhaupt die Digitalisierung: Jedem Studierenden wird ein Online-Account für eine Flatrate von nur 20 Mark im Semester geboten, fast alle Wohnheime sind ans schnelle Glasfasernetz angeschlossen, die Installation eines Funkdatennetzes für Laptops macht große Fortschritte, und das aktuellste Vorlesungsverzeichnis ist ab Sommer 2001 sogar per WAP-Handy abrufbar. Ein in Gründung befindliches Alumni-Netzwerk soll den Kontakt zu den hoffentlich glücklichen Absolventen zukünftig nicht mehr abreißen lassen und alte Kontakte auffrischen.
Doch wenden wir den Blick noch einmal zurück in die analoge Ära. Die erste Blütezeit der Universität im 18. Jahrhundert und ihre zweite große Ära im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden durch nachfolgende staatliche Repression verdunkelt: 1837 entließ König Ernst August die „Göttinger sieben“ Professoren, darunter die Brüder Grimm, die öffentlich gegen die Aufhebung des liberalen Staatsgrundgesetzes protestiert hatten. Die Ausweisung dieser liberalen Gelehrten bedeutete einen schweren Substanzverlust, ein Jahrhundert später noch übertroffen von dem Schlag, den die Nationalsozialisten der Universität - von dieser bestürzenderweise weitgehend unwidersprochen - mit der Vertreibung jüdischer und oppositioneller Wissenschaftler versetzten. Der vor allem in den Naturwissenschaften gepflegte und ab 1905 durch eine prestigeträchtige Reihe von - bis heute insgesamt 44 - Nobelpreisen gekrönte „Geist von Göttingen“ lebte in den Ländern des Exils weiter.
Nach 1945 setzte unter zunächst weitgehender Vermeidung der notwendigen Aufarbeitung der NS-Zeit eine Periode stürmischen Wachstums der materiell kaum durch Kriegsschäden getroffenen Georgia Augusta ein, in der die Hochschule auch allmählich wieder die Kraft fand, sich auf ihre alte Tugend des aufgeklärten Denkens zu besinnen. Die bauliche Erweiterung aus der beschaulichen Enge des alten Stadtzentrums in neue Stadtteile hinein war die Folge der explodierenden Studentenzahlen, aber er war auch die Voraussetzung für weiterhin erstrangige Forschung. Beleg dafür sind das eingeworbene Drittmittelvolumen in einer derzeitigen Größenordnung von rund 100 Mio. DM jährlich ebenso wie die hier arbeitenden Träger renommierter Forschungspreise oder die Zahl der 12 Sonderforschungsbereiche und 15 Graduiertenkollegs. Bei allem historischen Renommee und trotz der Erfolge der Gegenwart würde ein Stehenbleiben Rückschritt bedeuten. Durch eine Modernisierung der Mittelverwaltung sucht die Universität in der Situation sinkender Realetats in einer investitionsintensiven Phase des Generationswechsels unter der Professorenschaft wettbewerbsfähig zu bleiben. Mit dem 1. Januar 2001 wurde flächendeckend das Kaufmännische Rechnungswesen eingeführt, um in den kommenden Jahren Instrumente einer bedarfs- und leistungsgesteuerten Finanzierung der rund 180 Institute mit über 500 Professorinnen und Professoren bereitzustellen. Damit brechen Zeiten ungeahnter Flexibilität für neue Forschungsschwerpunkte und eine optimierte Betreuung der Studierenden an. Der Weg zum „Unternehmen Georg-August-Universität“ scheint frei, wenigstens aus Göttinger Sicht, und die Hochschule fühlt sich gerüsteter denn je für die Herausforderungen durch die zu erwartenden Veränderungen im deutschen Hochschulsystem.
Der vor einigen Jahren begonnene überproportionale Generationswechsel muß gleichzeitig zu neuen Strukturen und Schwerpunkten in einem sich verändernden gesellschaftlichen Umfeld führen - keine leichte Aufgabe für eine „Universi“-tät, die diesen Namen zu recht trägt als mit ihrem Fächerspektrum universelle wissenschaftliche Hochschule. 13 Fakultäten bieten mit Theologie, Jura, Medizin, Philosophie, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geo-, Forst-, Agrar-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit über hundert Studienfächern, die auf hunderterlei Art als Haupt- und Nebenfächer zu kombinieren sind, fast „alles“ bis auf die Ingenieurdisziplinen. Darunter ist beispielsweise in den Philologien auch manches seltene „Orchideenfach“, das außer in Göttingen in Deutschland oder gar Europa kaum irgendwo zu finden ist.
Die Exempel für den überall zu spürenden Aufbruch sind vielfältig. So hat sich durch die Zusammenarbeit über Fakultäts- und Hochschulgrenzen hinweg ein gewichtiger Schwerpunkt biowissenschaftlicher Grundlagenforschung entwickelt. Gemeinsam mit Kollegen der Max-Planck-Institute forscht man in exzellenten Sonderforschungsbereichen und gründete das „Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften“, dessen erster Bauabschnitt mit einem Investitionsvolumen von 50 Mio. DM demnächst den richtungweisenden Aktivitäten von Medizinern, Biologen, Chemikern und Agrarwissenschaftlern neuen Raum geben wird. Ein Gründerzentrum für Unternehmen der Biotechnologie, in unmittelbarer Nähe geplant, soll den Wissenstransfer in die Wirtschaft gewährleisten, wie es auch in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Ausgründungen und An-Instituten in den Natur- und Geisteswissenschaften getan haben. Besonders bekannt gewordene Beispiele sind das Forschungszentrum Waldökosysteme, das Zentrum für Naturschutz oder das Tropenzentrum. Weitere neue Zentren kamen bis in die letzten Monate hinzu, deren Arbeitsgebiete sich von der Biodiversitätsforschung über internationale Wirtschaft, angewandte Medienwissenschaft und Informatik bis hin zur Mittelalter- und Frühneuzeit-Forschung erstrecken. Zumeist stehen diese Gründungen im Zusammenhang mit neuen Studienangeboten, die nicht nur auf Herausforderungen des Arbeitsmarktes reagieren (wie die Studiengänge „Angewandte Informatik“ oder „Medien- und Kommunikationswissenschaft“), sondern auch Synergien aus der international-interdisziplinäre Vernetzung der Göttinger Wissenschaft ziehen (wie die Intensivstudiengänge „Molecular Biology“ und „Neuro Science“). Derartige Angebote lassen die Zahl der Studienanfänger derzeit überdurchschnittlich steigen.
Noch übertroffen wird dieser Innovationsschub vom Neubau der Fakultät für Physik, der zwar die Aufgabe der Wirkungsstätten berühmter Nobelpreisträger im Stadtzentrum, aber auch die Entwicklung eines modernen naturwissenschaftlichen Campus im Norden der Stadt bedeutet. Für rund 150 Mio. DM werden bis zum Frühjahr 2002 variable Gebäude für Forschung und Lehre geschaffen, die bereits für Optionen des 22. Jahrhunderts gerüstet sind und die Attraktivität des Standortes beträchtlich steigern werden. Weitere Umzüge werden folgen, so dass die seit den 50er Jahren angestrebte räumliche Zusammenfassung der experimentellen Fächer im Nordbereich nun absehbar Wirklichkeit wird.
Wie bei früheren Epochenwechseln stellt sich auch jetzt eine Forschergeneration offensiv den Herausforderungen eines im Wandel begriffenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses. Noch eine kleine Weile schmücken drei Porträts großer Göttinger die Banknoten der scheidenden D-Mark: Der Mathematiker Gauß den 10-Mark-Schein; die Brüder Grimm den Tausender. In großer und kleiner Münze werden Forschung und Lehre der Georgia Augusta ganz gewiß auch in übernationaler Währung weiterhin ihre gewichtige Rolle spielen - Euro-weit und global, dem eigentlichen Wirkungsfeld wirklicher Wissenschaft.
Frank Woesthoff