Dissertationsprojekt

Die institutionelle Erziehung der Jugend, getrennt von der Familie und außerhalb größerer Städte und Ballungszentren, stellte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in immer umfassenderer Weise als Versprechen an bürgerliche Kreise die 'junge Generation' zu einem authentischeren Selbst und mithin zu Mitgliedern einer besseren Gesellschaft zu erziehen. Die pädagogische Provinz erschien als heilsamer Ort fernab der 'Gefahren der Zivilisation' an dem das noch junge Konzept der Charaktererziehung verwirklicht werden könne. Zeitgleich entspann sich angesichts einer als umfassend empfunden Krise gesellschaftlicher Ordnungen insbesondere nach dem Schock des verlorenen Weltkrieges von 1914/1918 ein wissenschaftlicher Diskurs über die Erforschung, Lesbarmachung und schlussendlich auch Veränderbarkeit des menschlichen Inneren, das unter Schlagworten wie "Charakter", "Haltung" und "Persönlichkeit" gefasst wurde. Psychologie, Pädagogik, Soziologie aber auch Physiologie, Wehrwissenschaften und neue Wissenschaften wie die Charakterologie brachten eine Form des physio-psychologischen Denkens hervor, das auf den Zusammenhang zwischen der körperlichen Erscheinung des Einzelnen, seiner inneren Verfasstheit und dessen Platz in der sozialen Ordnung gerichtet war. Messianisch aufgeladene Debatten und eine allgemeine, politische Lager überschreitende "Führererwartung" sind dafür beredter Ausdruck.


Eine Ausgangssituation, derer sich nationalsozialistische 'Reformer' annahmen und in deren Zusammenhang die Errichtung eines ganzen Systems von sogenannten "Führernachwuchsschulen" zu sehen ist, deren Topographie bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges das gesamte Reich überzog und ebenso ihre Spuren in den sozialen Zusammenhängen der NS-Gesellschaft hinterließ. Als vermeintlich sozial-egalitäre Aufstiegskanäle sollten die Internatsschulen einer gesellschaftlichen Dynamisierung und Neuformierung des Weg ebnen. Für die traditionellen Internatsschulen, insbesondere reformpädagogischer Prägung, bedeutete die Entwicklung Bedrohung und Chance gleichermaßen - insofern traditionelle Formen des Zusammenlebens in den Institutionen in Frage gestellt aber auch Möglichkeiten des breiteren Einflussnahme in der zukünftigen Gesellschaft in Aussicht gestellt wurden.

Das vorliegende Dissertationsprojekt versucht anhand einer genauen Analyse der Erziehungsverhältnisse in einer ganzen Reihe von Erziehungsinstitutionen, die sich als 'Elite'-Schulen gerierten oder gesehen wurden, die Phantasie der Charaktererziehung und ihre Wirkmächtigkeit über einen längeren Zeitraum (1920-1960) nachzuverfolgen. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei nicht allein genuin nationalsozialistische "Führerschulen" - wie die NS-Ordensburgen, die Adolf-Hitler-Schulen, die nationalpolitischen Erziehungsanstalten und zu einem gewissen Grade die SS-Junkerschulen - , sondern auch deren zeitliche Vorläufer und Nachfolger, sprich die Landerziehungsheime der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik (bspw. die Odenwaldschule, die Hermann-Lietz-Schulen, der Birklehof und die Schule Schloss Salem). Die Studie rekonstruiert das diskursive Feld rund um die Idee der Veränderbarkeit dessen, was als zentralster Ausdruck der Person - ihr Charakter - identifiziert wurde. Außerdem untersucht die Arbeit das Zusammenleben und -arbeiten innerhalb der institutionellen Zusammenhänge der Schulen, widmet sich einer Rekonstruktion personaler Netzwerke und legt ganz besonderen Wert auf die Sinndeutung durch die Erzogenen selbst. Dazu zieht die Arbeit sowohl administrative Überlieferungen, Aktenüberlieferung von Nachkriegsverfahren , zeitgenössische wissenschaftliche Publikationen und Zeitschriften und in erster Linie Selbstzeugnisse (Briefe, Tagebücher und Aufsätze) der Zöglinge und historischen Akteure heran. Da mit den "NS-Führerschulen" Institutionen im Mittelpunkt der Arbeit stehen, deren Absolventen in tiefgreifender Weise an den Verbrechen insbesondere in den besetzten Gebieten Osteuropas, innerhalb der Zivilverwaltungen und an der Ermordung der europäischen Juden beteiligt waren, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Sozialisation innerhalb der NS-Erziehungsinstitutionen und Tatbeteiligung während des Zweiten Weltkrieges in ganz maßgeblicher Weise. Die Studie begreift Erziehung und Schulung dabei weniger über die vermittelten Inhalte allein, sondern ihrerseits als Praxen der Weltdeutung, -aneignung und Versuch der Gemeinschaftsbildung. Angeleitet von jüngeren soziologischen Arbeiten zu Subjektkulturen des 20. Jahrhunderts und aus einer alltags- und kulturgeschichtlichen Perspektive fragt die Arbeit nach dem Zusammenhang von Erziehung, Selbstbefreiung, Unterdrückung und Gewalt während des Untersuchungszeitraum und hofft so einen Beitrag hin auf dem Weg zu einer machtsoziologischen Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus zu leisten.