Guten Tag, Herr Oguy. Sie kommen ursprünglich aus Czernowitz, das seit 1940 der UdSSR und seit 1990 der Ukraine angehört. Könnte man die Stadt einen interkulturellen Ort nennen?

Ja, natürlich, zu österreichischen Zeiten wurden in Czernowitz (wie im ganzen Buchenland/Bukowina, jetzt Gebiet Czerniwzi, Ukraine) fünf bis acht Sprachen gesprochen, darunter mein geliebtes Deutsch. Man sprach in dieser Zeit von der Bukowina als von einem multikulturellen Schiff, auf dem der Kapitän ein Deutscher (Österreicher), sein Stellvertreter ein Pole war und Ukrainer, Rumänen, Slowaken, Ungarer u.a. ruderten, wobei als einziger Passagier ein Jude saß. Ich bin selbst aber kein Czernowitzer, sondern komme aus einem Dorf nebenan, ungefähr 20 km entfernt. Früher lebten in meinem Dorf Sniacziw viele anderssprachige Siedler, außer Ukrainern und Rumänen, auch viele Polen (Suschinski), einige Deutsche (namens Rain, Schmidt, auch Pawlowski, u. a.), auch Juden (Berger) und, etwas früher, ein kleiner Anteil Türken, von denen nur die assimilierten Namen erhalten blieben (Chalus, Bostan, Oguy etc.). Heute sind hier vor allem Ukrainer, Rumänen und Russen. Die Bevölkerung war einmal sehr durchmischt. Die Menschen haben sich gut verstanden und zusammen Feste gefeiert, wenn es zum Beispiel bei den polnischen Mitbürgern Anlass zum Feiern gab. Es herrschte eine Toleranz der Kulturen und Sprachen. Das gehörte zum normalen Alltag dazu und die Reste davon habe ich noch als Kind miterlebt.



Wodurch wurde Ihr Interesse an der deutschen Sprache geweckt?

Meine Großmutter hat noch deutsch gesprochen, aber das Buchenländische aus jener Region (ohne Umlaute, ohne lange Vokale, mit falscher Wortfolge). So hieß es zum Beispiel: „Hol’n Kibel Wassr“. Auch mit manchen älteren Nachbarn und mit meinem Deutschlehrer Eduard Normand, einem Buchenländer, der 12 Sprachen fließend sprach, konnte ich mich auf Deutsch unterhalten, obwohl die meisten Deutschen 1940 von der Bukowina (Buchenland) schon ausgewandert waren. Es blieben nur noch ca. 20 deutschsprachige Familien in Czernowitz.



Wie viele Sprachen sprechen Sie?

Ich bin als Bukowiner früh mit allen Sprachen in Kontakt gekommen, die bei uns noch gesprochen wurden: ukrainisch, deutsch, russisch, rumänisch, polnisch, slowakisch, u. a. Mittlerweile bewege ich mich in vielen Sprachen. Das ist so eine Art Steckenpferd von mir. So nach Friedrich Rückert: „Mit jeder Sprache, die du erlernst, befreist du einen bis daher gebundnen Geist, der jetzo tätig wird in einer neuen Denkverbindung, die auftut dir eine neue Weltempfindung…“. In zehn Sprachen kann ich mich ausdrücken, ungefähr dreißig lesen (nach entdeckten phonetischen Übergängen, insbes. für indogermanische Sprachen) plus zehn weitere tote Sprachen, die ich für wissenschaftliche Zwecke brauche. In den jeweiligen Ländern, in denen ich veröffentlicht habe, lege ich Wert darauf, selbstständig in der Landessprache zu publizieren. Es gibt also, außer den zahlreichen ukrainischen und russischen Veröffentlichungen, auch etwa 90 Publikationen (mit Abstracts) in zwölf Ländern und in acht verschiedenen Sprachen.



Wann waren Sie das erste Mal in Deutschland und wie sind sie nach Göttingen gekommen?

Das erste Mal besuchte ich Deutschland im Jahre 1995. Nach einem Jahr 1996-1997 habe ich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm- Universität Bonn als Stipendiat der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Mainz) und Gastdozent das ganze Semester Seminare in deutscher Sprachgeschichte (Historische Sprachbetrachtung ausgehend vom Althochdeutschen) und einige Vorlesungen in Semantik gehalten. Es folgten danach Vorlesungen in Pädagogik (eine meiner vier Ausbildungen), Semantik, Methoden der linguistischen Untersuchungen in Klagenfurt, Wien, je einmal in Göttingen, Mainz und Berlin.
Da meine Fedkowicz-Uni zu Czerniwzi (die ehemalige „Universitas Francisco Josephina“) Partnerbeziehungen zu der Georg-August-Universität Göttingen hat, habe ich 2006 meine studentische Forschungsgruppe zur Uni Göttingen begleitet und mit StudentInnen Gastvorträge gehalten. Göttingen hat mir damals sehr gut gefallen. Hier habe ich ausgezeichnete Fachleute auf dem Gebiet der Interkulturellen Germanistik, Professoren wie Frau Prof. Hiltraud Casper-Hehne und Herrn Prof. Dieter Cherubim, kennen gelernt und für mich begriffen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ (Goethe).



Was haben Sie für Ihre Zeit hier in Deutschland geplant?

Ich bin hier, um mein Projekt, eine neue Fassung meines Lehrbuches in deutscher Lexikologie (416 S.), und ein neues kontrastives Lehrbuch in deutsch-ukrainischer Lexikologie (etwa 200 S.) zustande zu bringen. Der DAAD, dem ich (wie auch meinen beiden Betreuerinnen Frau Prof. Casper-Hehne und PD Dr. Andrea Bogner) zum tiefsten Dank verpflichtet bin, hat mir den Forschungsaufenthalt in Göttingen ermöglicht. Der Besuch hier ist sehr wichtig, denn zur Zeit entsteht hier unter der Betreuung von Frau Vize-Rektorin, Prof. Casper-Hehne das bahnbrechende deutsch-ukrainische Lehrwerk „DU“ (Deutsch-Ukrainisch; Deutsch Unterricht). Ich hoffe, dass uns unsere Partnerschaft zu „neuen Ufern“ führen wird und wir mit „vereinten Kräften: viribus unitis“ neue Projekte organisieren werden.



Nennen Sie uns noch einige Ihrer Lieblingsdichter?

Meine ukrainische Lieblingsdichterin ist Lina Kostenko, die, wenn übersetzt, literarische Nobelpreisträgerin sein kann. Aus deutschen Dichtern muss ich vor allem Friedrich Rückert, einen phantastischen Linguisten und interessanten Poeten, nennen. Vom Denker Goethe bin ich immer entzückt, Schiller (durch seine Romantik) und Heine (durch seine Ironie) waren auch immer bei mir beliebt.
Außerdem habe ich einige Kindergedichte aus meiner Heimatregion und meinen Kinderzeiten für immer fest eingeprägt: „Verzage nicht: ich weiß es nicht, ich kann es nicht, / du sollst es niemals sagen: / wenn etwas schwer und mühsam ist ,/ versuch’s, anstatt zu klagen“ (der Autor ist mir leider unbekannt). Sie kennen wohl auch die letzten Verse des Gedichts „If“ von Rudyard Kiepling:

“If you can feel the unforgiving minute
with sixty seconds' worth of distance run,
yours is the Earth and everything that's in it,
and which is more- you'll be a Man, my son!”


Darin drückt sich eben ein Lebensmotto von mir aus: dass man jede Minute seines Lebens durch gute Arbeit verbringen und in gute Arbeit investieren sollte, anstatt zu verzagen und anderen Menschen seine eigenen Fehler nachzutragen. Erst so wird man zum Menschen.