Wintersemester 2020/2021

Wallfahrt und Protest im Spätmittelalter: Niklashausen 1476

Do 10-12 Uhr
Beginn: 05.11.2020

Kommentar: Im Frühjahr 1476, im beschaulichen Dorf Niklashausen, etwas südlich von Würzburg, hatte Hans Böhm eine Vision. Die Muttergottes sei ihm erschienen und habe ihm aufgetragen, in der kleinen Holzkirche des Dorfes zu den Menschen zu predigen. Die nötige Erlaubnis, das Wort Gottes zu verbreiten, hatte der Hirtenjunge, der sich zuvor als Musiker in Schankstuben ein Zubrot verdient hatte, selbstredend nicht, aber daran störten sich die Menschen augenscheinlich nicht: In kürzester Zeit verbreitete sich in den deutschsprachigen Landen die Kunde vom Propheten Hans Böhm und dem "Gnadenort" Niklashausen. Zehntausende Menschen machten sich auf den Weg ins Taubertal, um Böhms Predigten zu lauschen und Vergebung für ihre Sünden zu erlangen. Auf ihrer Wallfahrt trugen sie Kerzen und Fahnen und sangen Lieder zu Ehren der Jungfrau Maria. In Niklashausen angekommen, schnitten sich die Frauen die Haare ab und warfen sie gemeinsam mit anderen Symbolen des Lasters - wie etwa Spielbrettern und spitzen Schuhen - auf einen "Scheiterhaufen der Eitelkeiten". Gerüchte von Wunderheilungen kursierten und der Zustrom nach Niklashausen schwoll in den folgenden Monaten immer weiter an.

Der Graf von Wertheim freute sich zunächst über die Einnahmen, die sich mit der Versorgung der Wallfahrer erzielen ließen und sah dem bunten Treiben untätig zu. Doch im Laufe des Sommers wurden die Obrigkeiten zunehmend nervös, denn immer mehr junge Menschen, in immer entfernteren Gebieten des Reichs, ließen die Feldarbeit links liegen und zogen los - ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten! Auch die Lieder der Wallfahrer verhießen aus der Sicht des Bischofs von Würzburg wenig Gutes: "Nun wollen wir es gott von himel clagen/ Das wir die pfaffen mußen schlagen" sollen die Menschen gesungen haben. Er entsandte Spione, um die Predigten des "Paukers", wie man Böhm mittlerweile nannte, zu dokumentieren. Deren Bericht bestätigte alle Befürchtungen: Böhm habe gepredigt "wie der Kaiser ein Bösewicht sei und auch mit dem Papst sei es nichts". Grafen und Ritter hätten Macht über das "gemeine Volk" und das sei Unrecht. Es käme noch der Tag an dem Grafen und Ritter für einen Tagelohn arbeiten müssten und Felder und Wiesen allen gemeinsam gehörten. Bischof Rudolf wusste, dass er handeln musste - er entsandte ein Kommando von 23 seiner bewaffneten Reiter, um in einer Nacht- und Nebel Aktion den predigenden Hirtenjungen Böhm zu entführen. Dies war erfolgreich, doch die Anhänger Böhms weigerten sich, dessen Gefangennahme hinzunehmen, so dass ein Showdown vor der bischöflichen Festung unausweichlich war…

Die "Wallfahrt nach Niklashausen" hat der Forschung immer wieder Rätsel aufgegeben: War sie eine Revolte, ein religiöses Erweckungserlebnis oder gar ein erster Vorbote des deutschen Bauernkriegs (1525-26)? In diesem Seminar wollen wir auf Basis neuer internationaler Forschungsansätze zu popular politics die Quellen des 15. Jahrhunderts neu lesen und vergleichen, wie die Mittelalterforschung des 19. und 20. Jahrhunderts Protest, Revolten und die "Politik der Massen" an der Schwelle zur Neuzeit gesehen hat.