Prof. Dr. Birgit Abels

Steckbrief

1. Was hat Sie dazu gebracht, Musikwissenschaft zu studieren?
Die gelebte Erfahrung, dass (m)ein Leben ohne Musik ein gänzlich anderes wäre, und dass das viele Fragen aufwirft – von vornherein gepaart einerseits mit dem Bedürfnis, dieses Phänomen in breitere kulturelle und soziale Verhältnisse einzuordnen, und andererseits mit einem großen Interesse an Musik und Tanz des Asien-Pazifik-Raums.

2. Was bedeutet für Sie, Musik zu erforschen?
Das sprach- und damit wissenschaftsfähig zu machen, was Menschen dazu bringt, überhaupt Musik zu machen. Klingt zunächst einfach. Wenn man sich nicht mit einfachen Kausalketten oder Psychologismen zufriedengeben mag, erfordert es aber ein fundamentales sich Einlassen auf Musikmachen als Art und Weise, in der Welt zu sein.

3. Was können Studierende im Musikwissenschaftsstudium in Göttingen bei Ihnen lernen?
Dass es immer auch andere Möglichkeiten gibt, zu hören; dass es immer auch andere Möglichkeiten gibt, zu denken; dass es immer auch andere Möglichkeiten gibt, Relevanzen aufzuspüren. Und wie Musik eine von einer dieser Möglichkeiten zur anderen führen kann.


Was mich als kulturelle Musikwissenschaftlerin interessiert, ist vor allem die Frage, warum uns Menschen Musik so viel bedeutet und wie sie das tut. Ich versuche zu verstehen, was die Ästhetik einer bestimmten Musik für uns ausmacht, wie und warum wir in Klang Bedeutsamkeit finden und warum wir uns jeden Tag aufs Neue mit Musik auseinandersetzen wollen: indem wir z.B. Musik hören; indem wir sie mögen oder nicht mögen; indem wir sie beurteilen, protegieren oder abwehren; indem unser Fuß mitwippt; indem wir zu und mit ihr tanzen; indem wir sie machen; indem wir ihr erlauben, uns emotional zu berühren; indem wir uns mit ihr identifizieren.

Musik erklingt an dem Nexus, an dem unsere Vorstellungen von Kultur, Gesellschaft, Ort, Geschichte, Ästhetik und Leben sich treffen. Sie besetzt einen Raum, in dem wir darüber fühlend nachdenken, wer wir sind und werden. In diesem vergänglichen, zeitgebundenen Klang finden wir bisweilen unvermittelt Ideen von uns selbst, die in genau diesem Moment in genau diesem Klang entstehen. Dies ist ein Grund dafür, dass ich glaube, dass es von fundamentaler Wichtigkeit ist, dass wir uns um eine analytische Durchdringung der vielen Bedeutungskomplexe von Musik bemühen: Musik verrät uns Dinge über uns selbst, die wir auf anderem Wege nicht erfahren. Indem wir uns fragen, wie wir eigentlich Musik und ihre Sinn-lichkeit begreifen, können wir ein Stückchen dessen verstehen, was uns selbst sinn-voll erscheint.

Was also ist eine "kulturelle Musikwissenschaft"? Sehr viel mehr als eine "post-koloniale" Inkarnation der akademischen Disziplinen, die unter den Namen Vergleichende Musikwissenschaft, Musikethnologie und Ethnochoreologie laufen. Wenn die Musikethnologie heute an einer historischen Kreuzung (1) steht, dann bedarf es nicht der gängigen Negativkritiken am Status Quo, sondern vor allem konstruktiver Neuentwürfe des Fachs. Die Kulturelle Musikwissenschaft stellt einen solchen Entwurf dar. Getragen vom (zweifelsohne ambitionierten) Ideal einer de-kolonialisierten Methodik ist es Ziel der Kulturellen Musikwissenschaft, die analytischen Werkzeuge für eine umfassende Beschäftigung mit allen Musiken der Welt auf Augenhöhe bereitzustellen und auch zu nutzen. "Umfassend" meint in dieser Formulierung eine Methodologie, in der Methoden und Techniken integriert werden, die charakteristisch für jeweils eine der drei 'klassischen' Unterdisziplinen des Fachs Musikwissenschaft (Historische Musikwissenschaft, Systematische Musikwissenschaft, Musikethnologie) zu sein scheinen. Der Begriff der Kulturellen Musikwissenschaft kann terminologisch in Analogie zu den Begriffen der Kulturanthropologie und Cultural Studies gesehen werden; beide Fächer haben die Idee der Kulturellen Musikwissenschaft beeinflusst. Die Kulturelle Musikwissenschaft kann, ausgehend von ihrer Position an den Schnittstellen inner- und interdisziplinärer Verknüpfungen, die destruktive Diskussion um den Gegenstand des Faches Musikethnologie lockern und sich gleichzeitig den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts stellen, ohne einer künstlich geschaffenen Abgrenzung zwischen traditionell und modern, populär und klassisch etc. zu bedürfen.

Die Grenzen zwischen verschiedenen "Musiken" sind in den letzten Jahrzehnten teilweise mehr und mehr eingebrochen, teilweise haben sie sich verschoben - immer aber sind sie steter Veränderung unterworfen. Das ist keineswegs eine neue Entwicklung, aber sie vollzieht sich in mancherlei Hinsicht deutlich schneller in der sogenannten globalisierten Welt als zuvor. Deshalb müssen die "Fachzweige" innerhalb der Musikwissenschaft primär Foci auf Aspekte von Musik bieten – und dann stehen Sinn und Zweck der Kulturellen Musikwissenschaft auch außer Zweifel. Denn die Kulturelle Musikwissenschaft stellt eine Anzahl solcher Perspektiven zur Verfügung.

1 "Ethnomusicology stands at an interesting and important historical juncture". Henry Stobart, Introduction, in: Henry Stobart (Hg.), The New (Ethno)musicologies, Lanham & Toronto: Scarecrow Press, 2008, S. 1–20, hier S. 1.



An der Bochumer Ruhr-Universität und der Londoner School of Oriental and African Studies habe ich Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Musikethnologie (Christian Ahrens, Owen Wright, Richard Widdess), Islamwissenschaft und Orientalistik bzw. Arabistik (Gerhard Endress, Stefan Reichmuth) studiert. Nach meinem Magistra-Abschluß in Bochum (2004) und Feldforschung in Indien begann ich mein Promotionsstudium. 2007 wurde ich promoviert mit einer Arbeit über die Musik von Palau (Mikronesien); dort habe ich von 2005 bis 2007 gelebt und intensive Feldforschung betrieben. Im Anschluß widmete ich mich einem Forschungsprojekt zu den sogenannten seenomadischen Gruppen der südostasiatischen Inselwelt, vor allem den Sama Dilaut (Bajau Laut), das ich vor allem auf Borneo, in institutioneller Anbindung aber zunächst am International Institute for Asian Studies in Leiden (Niederlande), später an der Universität von Amsterdam durchführte. Im März 2011 nahm ich den Ruf an das Musikwissenschaftliche Seminar der Georg August-Universität Goettingen an.


Der geographische Focus meiner Forschung liegt auf den pazifischen Inseln (vor allem Mikronesien), Nordindien und der südostasiatischen Inselwelt.