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Presseinformation: Neue Erkenntnisse über die engsten Verwandten der Landpflanzen

Nr. 119 - 02.09.2022

Forschungsteam unter Leitung der Universitäten Göttingen und Köln klärt Evolutionsgeschichte der Algen auf

 

Landpflanzen sind extrem vielfältig in ihrer Struktur und stellen die komplexesten photosynthetischen Organismen dar. Ihre engsten Verwandten, die Konjugierenden Grünalgen (Zygnematophyceae), haben dagegen einen viel einfacheren Bauplan. Diese Algen sind entweder einzellig oder bilden unverzweigte Fäden, was traditionell zur groben Einteilung in einzellige und fadenförmige Taxa verwendet wurde. Doch der Schein trügt. Die Morphologien der Algen haben eine turbulente Evolutionsgeschichte durchlaufen, die nun von einem Forschungsteam unter Leitung der Universitäten Göttingen und Köln aufgeklärt wurde. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Current Biology erschienen.

 

Die Zygnematophyten umfassen rund 4000 Arten und weisen eine faszinierende morphologische Vielfalt auf – von den schönen Schmuckalgen (Desmidiaceen) bis hin zu fadenförmigen Arten, die für Massenentwicklungen in stehenden Gewässern (engl. „pond scum“) verantwortlich sind. Das wissenschaftliche Interesse an dieser Algengruppe ist derzeit sehr groß, denn die Forschung der vergangenen Jahre hat ergeben, dass diese Algen die nächsten Verwandten der Landpflanzen sind. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren von dieser Erkenntnis überrascht, da die Baupläne der Zygnematophyten weniger komplex sind als die anderer Algen, die früher fälschlicherweise für die nächsten Verwandten der Landpflanzen gehalten wurden.

 

Das Forschungsteam nutzte Hunderte von Genen, um Zehntausende von molekularen Merkmalen zu sammeln, aus denen sich die tiefen evolutionären Beziehungen der Zygnematophyten ableiten lassen. „Die Taxonomie dieser Algen war jahrzehntelang ein ungelöstes Problem, da Analysen mit einzelnen oder wenigen Genen nicht in der Lage waren, alte evolutionäre Aufspaltungen aufzulösen. Jetzt stellen wir ein phylogenetisch fundiertes Fünf-Ordnungs-System der Zygnematophyten vor, das Wissenschaftlern helfen wird, sich in der evolutionären Vielfalt dieser Algen zurechtzufinden“, sagt Dr. Sebastian Hess von der Universität zu Köln. Darüber hinaus lieferte der neue Datensatz die Grundlage für statistische Analysen, die es ermöglichten, das wahrscheinlichste Muster der Bauplan-Evolution dieser wichtigen Algenklasse zu rekonstruieren. Diese Analysen deuten darauf hin, dass der letzte gemeinsame Vorfahre der Zygnematophyten eine einzellige Alge war und dass fadenförmiges Wachstum bei diesen Algen mehrmals unabhängig voneinander entstanden ist.

 

Prof. Dr. Jan de Vries von der Universität Göttingen betont: „Die Entwicklung dieser Algen hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben auf der Erde. Die heutigen Landpflanzen haben ausgefeilte vielzellige Körper, die den größten Teil der Biomasse an Land ausmachen. Die Erforschung der engsten Verwandten aus dem Reich der Algen erlaubt uns Rückschlüsse auf Merkmale wie den Bauplan des letzten gemeinsamen Vorfahren von Landpflanzen und Algen sowie auf die Entwicklungswege, die sie seit ihrer Trennung eingeschlagen haben.“

 

Ein weiterer wichtiger Teil der Studie war die Wiederentdeckung von Mougeotiopsis, einer fadenförmigen Alge, die ursprünglich vor 120 Jahren beschrieben und seitdem nicht mehr untersucht wurde. Dieser Alge fehlen die Pyrenoide, die Chloroplasten-Substrukturen zur CO2-Fixierung bei der Photosynthese. Wie das Team zeigt, stellt die Alge außerdem einen weiteren Evolutionszweig der Zygnematophyten dar, der mehrzelliges Wachstum entwickelt hat. Anna Busch von der Universität zu Köln, die die Alge lichtmikroskopisch untersucht hat, erklärt: „Die phylogenetische Stellung von Mougeotiopsis war eine große Überraschung. Die fadenförmige Alge ist am engsten mit einzelligen Arten verwandt und hat keine Pyrenoide. Das ist sehr ungewöhnlich, da alle anderen bekannten Zygnematophyten Pyrenoide besitzen.“ Die Evolutionsgeschichte von Mougeotiopsis markiert eines der fünf Vorkommen von echtem fädigem Wuchs innerhalb der Zygnematophyten. „Solche Erkenntnisse und das neue Phylogenomik-basierte System sind grundlegend, um künftige vergleichende Analysen angemessen zu gestalten und die Entwicklung von zellulären Merkmalen und Bauplänen von Algen bis zu Pflanzen nachzuvollziehen“, sagt de Vries.

 

 

Originalveröffentlichung: Hess et al, A phylogenomically informed five-order system for the closest relatives of land plants, Current Biology 2022. Doi: 10.1016/j.cub.2022.08.022

 

 

Kontakt:

Prof. Dr. Jan de Vries

Georg-August-Universität Göttingen

Fakultät für Biologie und Psychologie

Institut für Mikrobiologie und Genetik

Abteilung Angewandte Bioinformatik

Goldschmidtstraße 1, 37077 Göttingen

Telefon (0551) 39 23755

E-Mail: devries.jan@uni-goettingen.de

Internet: www.uni-goettingen.de/de/613776.html