Die Lichtensteinhöhle
Bei der Lichtensteinhöhle handelt es sich um eine enge Klufthöhle, bestehend aus mehreren Höhlenkammern, welche sich im Nordwesthang des Lichtensteins nahe Osterode am Harz befindet. In den jährlichen archäologischen Grabungskampagnen - durchgeführt von der Kreisarchäologie Osterode am Harz - von 1993 bis 2013 wurden insgesamt 4.323 menschliche Knochen aus der Höhle geborgen, welche weitestgehend disloziert in den Höhlenkammern verstreut lagen. Die menschlichen Knochenfunde wurden vom Landkreis Osterode am Harz für die Forschung zur Verfügung gestellt und sind Bestandteil der Anthropologischen Sammlung in der Abteilung Historische Anthropologie und Humanökologie. Dort werden sie bis heute anthropologisch untersucht.

DNA Erhaltung
Aufgrund der in der Höhle vorherrschenden niedrigen Temperaturen von 6-8°C und einer schützenden Gipssinterschicht zeichnen sich die menschlichen Knochen und die darin enthaltene DNA durch einen herausragenden Erhalt aus. Entsprechend waren die Knochenfunde bereits Gegenstand mehrerer anthropologischer Forschungsarbeiten, unter anderem im Rahmen mehrerer vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Projekte, die jeweils molekulargenetische Schwerpunkte besaßen.

Opferstätte oder Bestattungsplatz
Durch die verschiedenen morphologischen und molekulargenetischen Untersuchungen des menschlichen Skelettmaterials zu unterschiedlichen Fragestellungen konnte zunächst eine Nutzung der Höhle als rituelle Opferstätte weitestgehend ausgeschlossen werden. Insbesondere die ermittelten Verwandtschaftsstrukturen im Sinne eines Familienclans lassen eine Nutzung der Höhle als Bestattungsplatz am plausibelsten erscheinen. Die weiteren morphologischen und molekulargenetischen Arbeiten an den kontinuierlich weiter ausgegrabenen Knochen dienten dem Ziel, die stark dislozierten Skelettelemente einzelnen Individuen zuzuordnen. Hierbei zeigte sich, dass nicht wie bis dahin angenommen 40, sondern 62 Individuen in der Höhle bestattet worden waren. Zusätzlich ergaben diese Studien, dass bestimmte anatomische Regionen im Vergleich zu anderen unterrepräsentiert sind, was auf eine Nutzung der Höhle als Sekundärbestattungsplatz hinweist.

Der Familienclan
Der im Rahmen des zweiten MWK-Projektes rekonstruierte Stammbaum des Familienclans umfasste im Jahr 2006 bereits 28 der 40 bis dahin molekulargenetisch differenzierbaren Individuen, die Mitglieder mehrerer Kernfamilien sind. Des Weiteren konnten, z.B. über mikromorphologische Untersuchungen, Daten gewonnen werden, die eine Rekonstruktion der demographischen Struktur der Population ermöglichen sowie Aufschluss über individuelle und kollektive Biographien geben. Auch die demographischen Strukturen - vom infans 1 bis ins senilis sind alle Altersgruppen und beide Geschlechter vertreten - lassen ebenfalls auf einen Bestattungsplatz schließen.
Im jüngsten Forschungsvorhaben konnten die bereits durchgeführten paläogenetischen Untersuchungen an den bronzezeitlichen Individuen aus der Lichtensteinhöhle auf alle Bestatteten erweitert werden. Für die große Mehrzahl aller Individuen liegen nun genetische Fingerabdrücke, X-chromosomale STRs sowie mitochondriale und Y-chromosomale Haplotypen vor. Auf diese Weise gelang es, die genealogische Struktur der Bestatteten weiter aufzuklären und Lücken im vorhandenen Stammbaum zu schließen.

Stammbaum


Blutgruppen, Immungenetik, Laktosetoleranz, Augen- und Haarfarben
Im Weiteren wurden eine Reihe genetischer Marker analysiert mit der Absicht, Fragen zur Krankheitsbelastung, Subsistenzstrategie, immungenetischer Ausstattung, geographischer Herkunft (mt- und Y-Haplotyp) und zum Phänotyp der Individuen zu beantworten. Hierzu gehören die immungenetischen Marker CCR5, IL-6 und IL-10 sowie AB0- und Rhesusfaktor-Marker, Marker der genetisch determinierten Erkrankungen Cystische Fibrose und Hämochromatose, Marker der Laktosetoleranz sowie Marker, die Aufschluss über Augen- und Haarfarbe der Individuen geben. Zusätzlich zu den individualbiografischen Informationen, die aus diesen Analysen abgeleitet werden konnten, sind die Daten auch in einem übergeordneten evolutionsbiologischen und bevölkerungsgeschichtlichen Kontext relevant. In diese Richtungen zielen auch die jüngsten Nachweise zur Darstellbarkeit von Transposable Elements aus der bronzezeitlichen DNA.

Genetisches Archiv
Durch die bislang mithilfe der PCR-Technologie ermittelten genetischen Daten wurden nicht nur neue Erkenntnisse zu den Individuen der Lichtensteinhöhle gewonnen, sondern die Basis zur Ergründung der Kultur- und Sozialgeschichte sowie zu populationsgenetischen Charakteristika des Harzvorlandes und angrenzender Regionen gelegt. Die Daten bilden außerdem den Grundstock für das erste bronzezeitliche genetische Archiv. Auf die Vervollständigung des genetischen Archivs zielen auch die ersten Versuche zur Darstellung ganzer Genome durch Next Generation Sequencing ab, die sehr erfolgversprechend waren. Über die Weiterverfolgung dieses methodischen Ansatzes könnten also künftig alle Daten zur Verfügung stehen, die für die Bearbeitung jeglicher auf genetische Basis zu gründenden wissenschaftlichen Frage benötigt würden.