Presseinformation: Die ältesten heiligen Texte, Rituale und Mythen der Welt
Nr. 173 - 07.11.2025
Altorientalistin der Universität Göttingen entschlüsselt Kernbegriff des antiken Mesopotamien
(pug) Die ältesten Mythen und Rituale rekonstruieren, die Welt der Keilschrifterfinder völlig neu verstehen: Forschungsergebnisse der Universität Göttingen stellen das Wissen um die Hochkultur der Schrifterfinder (ca. 3.500 v. Chr.) auf eine neue Basis. Basierend auf der Grundlagenforschung der altorientalischen Philologie und durch neue, in Göttinger Forschungsgruppen entwickelte Theorie und Methoden der Erzählstoff-Forschung (Hylistik) ist es gelungen, den bisher unverständlichen Kernbegriff der frühesten Schriftkultur der Welt zu entschlüsseln. Die Ergebnisse wurden in der Reihe „Göttinger Beiträge zum Alten Orient“ im Universitätsverlag Göttingen veröffentlicht.
„Durch eine ganze Reihe neuer Forschungsergebnisse ergibt sich ein Bild der sumerischen und babylonischen Kultur am Anfang der Schrift und Geschichte, wie wir es so umfassend bislang nicht hatten“, sagt Prof. Dr. Annette Zgoll, Direktorin des Seminars für Altorientalistik der Universität Göttingen. „Wir wissen jetzt, dass der Kernbegriff der sumerischen und babylonischen Hochkultur ‚Ritual‘ bedeutet. Dadurch lassen sich nun früheste heilige Texte erschließen, unbekannte Mythen identifizieren und neue Zugänge zum Gilgameš-Epos und einer bislang fremden, faszinierenden Welt hinter der Keilschrift eröffnen.“
Die Erkenntnisse machen bislang unverständliche Mythen aus geheimen Ritualtexten verstehbar: Warum die mächtigste Göttin Innana in die Unterwelt geht und zeitweilig stirbt? Für Rituale. Wie ein Monster dem höchsten Staatsgott die Macht raubt? Durch eine Ritualtafel. Warum Gilgameš aus mesopotamischer Sicht doch nicht scheitert? Durch Einweihung in geheime Rituale.
Die Fülle der Forschungsergebnisse lässt fremde Vorstellungen von Ritualen in Sumer, Babylonien und Assyrien aus drei Jahrtausenden erstmals erkennen: „Rituale sind hier nicht Menschwerk, sondern von Gottheiten erschaffen oder aus kosmischen Räumen errungen“, erläutert Zgoll. „Nichts kann ohne Rituale funktionieren: Rituale sind stärkste Macht und umstrittenster Besitz von Göttern. Die Menschheit wird zur Durchführung der Rituale für die Götter erschaffen, aber nicht Menschen, sondern Götter führen Rituale durch.“
Auch weitere wissenschaftliche Fragen erscheinen nun in einem anderen Licht: Wer der älteste Autor der Welt ist? Aus heutiger Sicht die Hohepriesterin En-ḫedu-ana, aus antiker Sicht die Stadtgöttin, die sich durch ein Ritual in ihr verkörpert. Was die viel diskutierten „Nachfolgeverträge“ der assyrischen Könige sind? Für Assyrer handelt es sich um Rituale der Königsmacht, mit Gottessiegel auf Macht-Tafeln gesiegelt. Daraus ergeben sich auch neue Perspektiven auf biblische Quellen und Konsequenzen für die religionswissenschaftliche Grundlagenforschung durch eine systematische, universal anwendbare wissenschaftliche Kategorisierung von Ritualen und Ritual-Funktionen.
„Am Ende steht ein herausfordernder Vergleich“, fasst Zgoll zusammen: „Anstelle des heutigen Paradigmas vom genauen Messen auf Basis der objektiven Zahl steht in der mesopotamischen Kultur das Paradigma des genauen Rituals auf Basis des wirkmächtigen Wortes.“
Originalveröffentlichung: Annette Zgoll (2025): Rituale. Schlüssel zur Welt hinter der Keilschrift. Göttinger Beiträge zum Alten Orient 6. Universitätsverlag Göttingen (ISBN 978-3-86395-671-4). Open Access: https://doi.org/10.17875/gup2025-2858.
Kontakt:
Prof. Dr. Annette Zgoll
Georg-August-Universität Göttingen
Philosophische Fakultät
Seminar für Altorientalistik
Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen
Telefon: (0551) 39-24402
E-Mail: altorien@uni-goettingen.de
Internet: www.uni-goettingen.de/de/115499.html