Kunstwerk des Monats im Januar 2019

06. Januar 2019
Der Protest und seine Überreste: Zum Wandel von Memorialkultur aus restauratorischer und soziologischer Perspektive am Beispiel der Büste David Hilberts
Vorgestellt von: Jorun Ruppel (Dipl-Restauratorin) und Amelie May.

David Hilbert Büste mittelAm 17. Juni 2009 sind im Verlauf einer Demonstration, die sich unter anderem gegen die Studiengebühren und die Bologna-Reformen richtete, drei der vier Professorenbüsten (aus Marmor bzw. Gips) im Eingangsbereich der Aula mit Filz- und Wachsstiften beschmiert worden. In der folgenden Nacht sind Personen durch ein offenstehendes Fenster auch in die Kleine Aula gelangt und haben dort sechs der zehn Professorenbüsten – alle aus Gips gegossen – beschädigt. Vier Büsten hat man mit Magentafarbe besprüht, von einer Büste (Christian Gottlob Heyne) den Kopf abgebrochen und entwendet und eine andere Büste (Johann Friedrich Herbart) mit einer rötlichen Flüssigkeit übergossen, wahrscheinlich Rotwein. Am spektakulärsten war das Schicksal des Portraits David Hilberts: Es ist mitsamt Sockelaufsatz in den Garten der Aula geflogen. Erdreste an der oberen linken Seite des ebenfalls magentafarben besprühten Kopfes zeugen von dem Ausflug in das Blumenbeet. Das Messingrohr, mit dem er auf dem Gipssockel befestigt war, ist aus diesem herausgebrochen.
Die Büsten im Eingangsbereich der Aula sind im Juni und Juli vor Ort restauriert worden, während die Restaurierung der Büsten aus der Kleinen Aula im Herbst und Winter 2009/10 in der Restaurierungswerkstatt des Archäologischen Instituts erfolgte. Von der Büste Heynes existierte eine Silikonform von 1986, so dass der zerstörte Abguss durch einen neuen ersetzt werden konnte.
Im Falle des Hilbert-Kopfes wurden dem Präsidium zwei Optionen vorgeschlagen: die Reinigung und Neusockelung des beschädigten Abgusses oder der Guss eines neuen Kopfes aus der ebenfalls 1986 hergestellten Form. Die Entscheidung fiel zugunsten der zweiten Option.
Der beschädigte Hilbert-Kopf hatte seine Funktion als Professorenportrait und Schaustück in der Kleinen Aula verloren und wurde fortan in einem offenen Regal im Bereich der Restaurierungswerkstatt aufbewahrt, bis er zu einem Exponat in der Ausstellung „Face the Fact“ wurde. Dort nicht mehr allein als Portrait Hilberts, sondern mit der zusätzlichen Bedeutung eines sichtbaren Überrests der Proteste von 2009 beladen.
Den Beschädigungen der Büsten ging allerdings mehr voraus als die Demonstration gegen Studiengebühren und die Bologna-Reform, an der sich insgesamt 10.000 Menschen beteiligten. Die Stimmung gegenüber dem Präsidium der Universität war seit mehreren Jahren sehr hitzig. Der Vorwurf der Studierendenschaft bestand mitunter darin, dass das Präsidium seit der Umwandlung der Universität in eine Stiftung zu sehr in die studentische Selbstverwaltung eingreife und jeglichen Aktionismus eindämmen wolle. Unter anderem stand der Vorwurf im Raum, dass der Brand des Oeconomicums im Jahr 2006 auf einen Kurzschluss des Kühlschranks aus dem studentisch-autonomen Café Kollabs zurückzuführen sei – ein Verdacht, der nie bestätigt wurde. Auch die geplante Abwicklung des Instituts für Politikwissenschaft bestärkte die Studierenden in ihrem Verdacht, dass die Universitätsleitung kritisches Denken und Lehre verhindern wolle.

Die Beschädigung der Büsten wurde nie zur Anzeige gebracht, die eingeholten Meinungen über den Vorfall – ambivalent. Das Göttinger Tageblatt betitelte die nächtliche Aktion als „Vandalismus“ und nahm somit die Position ein, dass es sich um blinde Zerstörungswut gehandelt hätte. Jedoch ist es sinnvoll, unter Einbeziehung der Vorgeschichte, auch nach mehreren Bedeutungsebenen Aussicht zu halten, zudem das formal unerlaubte Anbringen von Graffiti im öffentlichen Raum und vor allem auf Statussymbolen jeglicher Art meistens Botschaften bereithält. Wie auch die Rektoratsbesetzungen und Insignienzerstörungen an Universitäten während der 68er-Bewegungen unter anderem autoritäre Strukturen anprangerten und in ihrem Vorgehen teils kritisiert, teils gelobt wurden, sind auch die Büstenbeschädigungen als ein Kommunikationsakt zu betrachten. Eine endgültige Bewertung bleibt aus, da zu wenig über die Vorgehensweise und Intentionen der Beteiligten bekannt ist.