Franz Grillparzer: Weh dem, der lügt! (1838). Komödie
Inhalt
Die Komödie ist zeitlich im Frühmittelalter angesiedelt. Im Zentrum stehen der fränkische Bischof Gregor und sein Küchenjunge Leon. Letzterer verspricht, Atalus, den Neffen des Bischofs, aus der Geiselhaft beim germanisch-heidnischen Grafen Kattwald zu befreien. Da lügen für den Bischof zur größten Sünde gehört, besteht die Bedingung, dass Leon beim Befreiungsversuch stets die Wahrheit sagt. Leon lässt sich als Sklave auf die Burg Kattwalds verkaufen; durch sein selbstbewusstes Auftreten und seine Kochkünste kann er den zuvor als grausam beschriebenen Grafen für sich einnehmen. Von Beginn an gibt Leon zu, dass er vorhat, Atalus aus der Gefangenschaft zu befreien. Der Graf legt dies als einen vorlauten Scherz aus. Dessen Tochter Edrita, die am folgenden Tag mit dem verhassten und dümmlichen Galomir verheiratet werden soll, erkennt aber, dass Leon es ernst meint. Da sie Galomir nicht heiraten will, sondern eine Neigung zu Leon gefasst hat und mehr vom christlichen Glauben erfahren will, wird sie Leon und Atalus behilflich und folgt ihnen schließlich. Die Flucht gelingt nur, weil Leon im richtigen Moment immer die Wahrheit sagt. So gesteht er dem für Kattwald arbeitenden Fährmann, dass sie sich auf der Flucht vorm Grafen befinden. Weil der Fährmann sich kurz vorher von Kattwald abgewandt hat, werden die Flüchtigen gerade durch Leons Aufrichtigkeit von ihm über den Rhein befördert. Beim Bischof angekommen, muss Leon zugeben, dass die Rettungsaktion trotz konsequentem Sagen der Wahrheit nicht ohne List ablief. Der Bischof wiederum muss einsehen, dass sein ethischer Rigorismus sich in der Realität kaum durchsetzen kann. Zu einem letzten Wahrheitsgeständnis wird Leon verleitet, als er mitansehen muss, wie Atalus um Edritas Hand bittet. Nach dem dadurch provozierten Liebesgeständnis Leons und Edritas willigen der Bischof und Atalus in die Hochzeit der beiden ein.
Einordnung
Auf die Idee für seine einzige Komödie ist Franz Grillparzer (1791–1872) durch eine Lektüre der Historia Francorum aus dem 6. Jahrhundert gekommen. Zwischen den ersten Skizzen und der endgültigen Textfassung liegen 17 Jahre (vgl. Bachmaier 1987, S. 671). 1838 in Wien uraufgeführt, geriet die Inszenierung zu einem totalen Misserfolg. Tief gekränkt zog sich der Dramatiker für den Rest seines Lebens vom Theater und aus der Öffentlichkeit zurück (vgl. ebd., S. 695). Dennoch verfasste er weiterhin Dramen und Erzählungen, unter anderem die berühmte Erzählung Der arme Spielmann und das Drama Ein Bruderzwist in Habsburg.
Viele Faktoren haben zum Misserfolg der Uraufführung beigetragen. Zeitgenossen zufolge war die Inszenierung misslungen und Figuren waren falsch besetzt. Publikum und Kritik sollen sich zudem an sittenwidrigen Szenen und einer vermeintlichen Adelskritik gestoßen haben. So gab es eine Szene, in der Atalus und Edrita nebeneinander in einer Scheune schlafend gezeigt wurden (vgl. Helene Lieben 1860, zitiert von Bachmaier 1987, S. 685). Die anstehende Hochzeit zwischen dem Küchenjungen Leon und der Grafentochter Edrita wurde als Missachtung der Standesgrenzen aufgefasst (vgl. Heinrich Laube 1853, zitiert von Bachmaier 1987, S. 683f.). Auch hegte das Publikum andere Erwartungen an ein Lustspiel. Es rechnete nicht mit einer philosophischen Parabel und dem Auftritt eines Geistlichen (vgl. Bachmaier 1987, S. 696). Figuren wie Galomir (eine Caliban-Figuration) und Atalus wurden als albern empfunden (vgl. Helene Lieben 1860, zitiert von Bachmaier 1987, S. 685).
Bereits in den 1850er Jahren versuchte Heinrich Laube eine Rehabilitierung des Stückes (vgl. Bachmaier 1987, S. 559), aber erst um die Jahrhundertwende kam es zu einer Neuaufführung. Mit Josef Kainz in der Hauptrolle wurde sie nun zum Erfolg (vgl. Bachmaier 1987, S. 696). Grillparzer weigerte sich zeitlebens gegen eine Neuinszenierung und kommentierte bissig die Ablehnung seines Stückes durch das von ihm zuvor geschätzte Wiener Publikum:
Die Geier in Schönbrunn sollen mit ihrem Wärter sehr unzufrieden seyn, weil er ihnen frisches Fleisch gegeben hat, indeß doch Aas ihre Lieblingsspeise ist. Die sagen, und zwar mit Recht, er hätte sich nach ihrem Geschmacke richten sollen. (zitiert nach Bachmaier 1987, S. 697)
Inzwischen ist Grillparzers Komödie Teil des Kanons. Der philosophischen Tiefendimension des Stückes, die sich über Fragen nach Kultur, Moral, Wahrheit, der Natur des Menschen sowie der Beschaffenheit von Sprache erstreckt, wurde in zahlreichen Interpretationen Beachtung geschenkt. Bereits Helmut Bachmaiers Kommentar zur historisch-kritischen Werkausgabe zeigt, dass sich von Augustinus und Thomas von Aquin über Descartes und Kant bis Wittgenstein zahlreiche philosophische Theorien auf das Lustspiel anwenden lassen (vgl. Bachmaier 1987, S. 698–707).
Trotz des philosophischen Gehalts wurde die Gattungsbezeichnung in der literaturwissenschaftlichen Rezeption des 20. Jahrhunderts ernst genommen. Neben der vielfach vorhandenen Figuren-, Sprach- und Situationskomik enthält das Stück Anleihen der Commedia dell’arte. Die Figur des Leon lässt Komödientypen wie den Gracioso, Truffaldino oder Hanswurst durchscheinen (vgl. Bachmaier 1987, S. 703). Ein weiteres Komödien-Element – die Kreatürlichkeit (vgl. Schößler 2017, S. 35) – erhält das Stück durch die ausführliche Thematisierung des Essens im 1. und 2. Akt. Auch Inversionen (d.h. Umkehrungen) sorgen für komische Effekte (vgl. Bachmaier 1987, S, 702): So muss sich der Bischof vor Leon für seinen Geiz rechtfertigen (er spart für Lösegeld) und ein Pilger schaut dem Geld hinterher, das Leon an Bedürftige spendet. Das Stück endet typisch für Komödien mit einem happy end sowie einer bevorstehenden Hochzeit. Allerdings gibt es auch Interpretationen, die das happy end für nicht glaubwürdig halten (z.B. Klüger 2016, S. 177f.).
Literaturangaben
- Bachmaier, Helmut: Kommentar. Franz Grillparzer: Werke in sechs Bänden. Hg. von Helmut Bachmaier. Bd. 3: Dramen 1828-1851. Frankfurt a. M. 1987, S. 669–709.
- Grillparzer, Franz: Weh dem, der lügt! In: Franz Grillparzer: Werke in sechs Bänden. Hg. von Helmut Bachmaier. Bd. 3: Dramen 1828-1851. Frankfurt a. M. 1987.
- Klüger, Ruth: Nachbemerkung (2016) [zum Aufsatz:] Weh dem, der lügt! Franz Grillparzer und die Vermeidung des Tragischen. In: Ruth Klüger: „Wer rechnet schon mit Lesern?“ Aufsätze zur Literatur. Hg. von Gesa Dane. Göttingen 2021, S. 176–178.
- Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. 2., aktualisierte und überarbeitete Ausgabe. Unter Mitarbeit von Christine Bähr, Hannah Speicher und Nico Theisen. Stuttgart 2017.
Ausgaben
- Franz Grillparzer: Dramen 1828–1851. In: Franz Grillparzer: Werke in sechs Bänden. Hg. von Helmut Bachmaier. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1987. (Standort SDP-Bibliothek, Signatur: V-GR 40 1/7:3)
- Franz Grillparzer: Weh dem, der lügt! Hamburger Lesehefte, Husum 2005.
Weiterführende Literatur / Ressourcen
- Fetz, Bernhard / Michael Hansel / Hannes Schweiger (Hg.): Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart. Wien 2016.
- Klüger, Ruth: Weh dem, der lügt! Franz Grillparzer und die Vermeidung des Tragischen. In: Ruth Klüger: „Wer rechnet schon mit Lesern?“ Aufsätze zur Literatur. Hg. von Gesa Dane. Göttingen 2021, S. 157–178.
- Prutti, Brigitte: Weh dem, der lügt! Germanen und andere Feinschmecker: Zur komödiantischen Konstruktion von kultureller Alterität. In: Dies.: Grillparzers Welttheater: Modernität und Tradition. Bielefeld 2013, S. 240–304.
- Jahrbücher der Grillparzer-Gesellschaft. Insbes.: Agnes Pistorius: Der Satiriker in Grillparzer. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 29, 3 (2021–2022).
- Grillparzer Gesellschaft
Lesedauer
- individuelle Lesezeit: 1,5–2 Stunden
Leseprobe
[Aus dem 5. Akt:]
„LEON da Atalus die Hand ausstreckt und Edrita im Begriff ist die ihre zu heben:
O Herr!
GREGOR
Was ist? – Warum stehst du so fern?
LEON
Ich nahe denn, um Urlaub zu begehren.
GREGOR
Urlaub, warum?
LEON
Das Reisen wird Gewohnheit,
Reist einer nur ein Stück mal in die Welt.
Und dann, ihr wißt, mich trieb wohl stets die Lust
Im Heer des Königs –
GREGOR
Das wärs?
LEON
Ja, das ists.
GREGOR
Dich treibt ein andrer Grund.
LEON
Fürwahr kein andrer.
GREGOR Weh dem, der lügt!
LEON
Man sollte ja doch meinen –
GREGOR
Noch einmal weh! dem Lügner und der Lüge.
LEON
Nun, Herr, das Mädchen liegt mir selbst im Sinn.
Will sie mich nicht, mag sie ein Andrer haben.
Doch zusehn eben wie man sie vermählt –
EDRITA auf ihrem Platze bleibend:
Leon
LEON
Ja du.
EDRITA
Leon, und ich –
LEON
Wie nur?
EDRITA
War ich gleich Anfangs dir denn nicht geneigt?
LEON
Doch in der Folge kams gar bitter anders.
Du gingst mit Atalus.
EDRITA
Ei, gehen mußt ich,
Du aber stießest grausam mich zurück.
LEON auf Gregor zeigend:
Es war ja wegen dem. Er litt es nicht.
Sollt ich mit Raub und Diebstahl zu ihm kehren?
EDRITA
Du aber stahlst mein Inneres und hasts.
LEON
Und willst dich doch vermählen?
EDRITA
Ich?
Mit gefalteten Händen den Bischof vertrauensvoll anblickend:
O nein.
GREGOR
Wer deutet mir die buntverworrne Welt!
Die reden Alle Wahrheit, sind drauf stolz
Und sie belügt sich selbst und ihn, er mich
Und wieder sie; der lügt weil man ihm log –
Und reden Alle Wahrheit, Alle. Alle.
[...]“
(Zitat: TextGrid Repository (2012). Franz Grillparzer: Weh dem, der lügt! TextGrid Digitale Bibliothek)
Was finde ich an dem Text interessant?
Interessant finde ich an dem Drama vor allem die Gattungsfrage. Zwar enthält es mit seinen burlesken und komischen Szenen eindeutig Lustspiel-Elemente, ist aber durch die philosophische Thematik und den kriegerischen Konflikt, der den Hintergrund der Handlung abgibt, durchaus ernst. Schon zu Lebzeiten wurde Grillparzer dafür kritisiert, dass er gar keine richtige Komödie verfasst habe. Statt eine klare Gattungseinordung anzustreben, finde ich es spannend, Grillparzers Drama ähnlich wie Kleists Der zerbrochne Krug als Grenzfall der Gattung Lustspiel zu untersuchen.
Jakob Malzahn (M.A.-Studierender)