Kunst und Medizin im 19. Jahrhundert:
Carl Julius Mildes Porträtzeichnungen "Geisteskranker"

Vortragende: Julia Diekmann, M.A.
(Kunstsammlung der Universität Göttingen)
Kunst und Medizin

Zwischen den Jahren 1828 und 1834 fertigte der Lübecker Künstler, Denkmalpfleger, Kunstautor und Insektenforscher Carl Julius Milde (1803–1875) ca. 70 Porträtzeichnungen "geisteskranker" Patienten der sogenannten Irrenabteilung des Hamburger Allgemeinen Krankenhauses St. Georg an. Die Zeichnungen ent­standen im Auf­trag der zu­ständigen Ärzte und müssen im Zu­sammen­hang mit der Etablierung der Psychiatrie als eigen­ständiges Fach der Medizin im 19. Jahr­hundert ge­sehen werden. In den zeit­ge­nössischen Auf­fassungen ging man davon aus, dass inner­liche Krank­heits­zu­stände am Körper ab­zu­lesen seien. Arbeiten wie die von Johann Caspar Lavaters Physiognomik (1772; 1775–1778) haben den Grund­stock für eine Praxis ge­legt, die in den Er­scheinungs­formen des Kopfes sowie des Gesichtes Rück­schlüsse auf die je­weiligen Formen geistiger Er­krankungen ziehen wollte. So etablierte sich zu Be­ginn des 19. Jahr­hunderts eine psychiatrische Ab­bildungs­praxis, die Krank­heit nicht nur mit Stift und Pinsel fest­hielt, sondern über­haupt erst als sicht­bares Zeichen pro­duzierte. Künstler wurden be­auf­tragt An­stalts­in­sassen zu por­trätieren, die hier­aus her­vor­ge­gangenen Ab­bildungen fanden Ein­gang in die wissen­schaftlichen Lehr­bücher der Psychiatrie zu Beginn des 19. Jahr­hunderts.

Im Vor­trag wird der These nach­ge­gangen, dass Mildes Porträts sich grund­legend von den etablierten Formen der psychiatrischen Abbildungs­praxis seiner Zeit unter­scheiden. Was uns in den Porträt­zeichnungen "Geisteskranker" be­gegnet, sind Spuren des ge­lebten Lebens, der ver­letz­bare, vielleicht auch leiden­den Mensch, dessen Einzig­artig­keit gerade darin liegt, dem Drängen als Objekt kalter Wissen­schaft­lich­keit zu wider­stehen.




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"Um die Ecke gedacht - Perspektiven geisteswissenschaftlicher Nachwuchsforschung"