Promotionsprojekt

Titel der Dissertation: Anthropologische Bearbeitung der Bestattungen napoleonischer Soldaten aus Frankfurt-Rödelheim zur Rekonstruktion der Lebensbedingungen in der Grande Armée

Im Rahmen dieser Arbeit wurden die menschlichen Überreste von mehr als 200 napoleonischen Soldaten, die im Stadtteil Rödelheim (Frankfurt am Main) 2015 archäologisch geborgen wurden, umfassend anthropologisch untersucht. Ziel der Untersuchung war es, Napoleons Rekrutierungsstrategie und Truppenzusammensetzung, Truppenbewegung sowie die Ernährungssituation, hygienische Bedingungen, Gesundheit und medizinische Versorgung der Soldaten nachzuvollziehen. Hierfür wurden biologische Korrelate an den Skeletten analysiert und dokumentiert. Dieses Vorhaben wurde durch den sehr guten Überlieferungszustand der Individuen unterstützt, so dass zahlreiche morphologische, morphometrische und molekulargenetische Untersuchungen möglich waren.

Die morphologischen und morphometrischen Untersuchungen wurden für die Erhebung der biologischen Basisdaten (Geschlecht, Alter, Körperhöhe, Robustizität) durchgeführt, um eine Beschreibung der demographischen Strukturen zu erlauben. Die Geschlechtsdiagnose wurde dabei durch die molekulargenetische Untersuchung über den geschlechtsspezifischen Amelogeninmarker und gonosomale Short Tandem Repeats (STRs) unterstützt. Im Skelettkollektiv wurden erwartungsgemäß überwiegend männliche Individuen, die im jugendlichen oder jungen Erwachsenenalter gestorben waren, nachgewiesen.

Durch die genetischen Untersuchungen konnten auf Basis autosomaler Allelfrequenzen sowie Y-chromosomaler Haplotypen und Y-Haplogruppenverteilungen zentrale Hinweise gefunden werden, dass es sich bei den Individuen der Skelettserie Rödelheim nicht ausschließlich um Franzosen handelte. Innerhalb der unterschiedlichen Alterskohorten (jugendliche und erwachsene Individuen), deuteten die Untersuchungsergebnisse der Y-chromosomalen Haplotypen und Y-Haplogruppen weiterhin auf Änderungen der Rekrutierungsstrategie und Truppenzusammensetzung zu Zeiten der Befreiungskriege hin. Die Ergebnisse legen nahe, dass die älteren Individuen vermehrt auch östlich des Rheins rekrutiert wurden, sich unter ihnen bspw. auch zahlreiche Soldaten der damals noch verbündeten Rheinbundstaaten befanden. Die jugendlichen Individuen wurden hingegen eher ausschließlich westlich des Rheins rekrutiert. Historisch überliefert ist, dass es nach den hohen Verlusten im Russlandfeldzug zu einer Erweichung des Rekrutierungsregimes kam und auch deutlich jüngere Männer den Wehrdienst antreten mussten. Insbesondere die jugendlichen Soldaten könnten als „letztes Aufgebot“ im Kaiserreich Frankreich rekrutiert worden sein, da Napoleon Maßnahmen ergriff, zum Schluss jeden für den Militärdienst zu verpflichten, ungeachtet seiner Tauglichkeit. Dafür spricht zum einen die relativ geringe Körperhöhe von 166 cm im Kollektiv, die zwar dem europäischen Durchschnittswert entspricht, aber im Vergleich zu den durchschnittlichen Körperhöhen einer Vielzahl anderer Skelettserien napoleonischer Soldaten relativ gering erscheint. Zum anderen spricht auch die hohe Anzahl von Individuen mit linearer Schmelzhypoplasien (über 90 %) und Anzeichen von Avitaminosen, bspw. Skorbut und Osteomalazie, die bei einigen Individuen identifiziert werden konnten, für ein entbehrungsreiches Leben vor und während des Lebens in der Armee.

Die Schnelligkeit der Armee und die besonderen körperlichen Herausforderungen der typisch napoleonischen Truppenbewegungen bilden sich durch Stressmarker am Skelett ab. Die altersuntypischen degenerativen Veränderungen, insbesondere an Gelenken der unteren Extremität und der Wirbelsäule, die Enthesiopathien an den Claviculae sowie die an fast zwei Drittel der Individuen diagnostizierten unspezifischen periostalen Reaktionen an den Langknochen der unteren Extremität belegen eine starke körperliche Belastung, bspw. durch langes Marschieren mit schwerem Gepäck. Dies wird durch die zahlreichen Stressmarker der Fußknochen unterstützt, die sich entweder als Frakturen der Mittelfuß- oder Zehenknochen zeigten, oder an einem Drittel der Individuen durch Anzeichen von Knorpeldefekten (Osteochondrosis dissecans) an Knochen der unteren Extremität in Erscheinung traten. Auffällig war dabei, dass die erwachsenen Individuen in der Regel schwerer von den Pathologien betroffen waren als die juvenilen. Dies deutet darauf hin, dass die erwachsenen Individuen möglicherweise schon deutlich länger innerhalb der Armee lebten, so dass sich die Pathologien deutlich schwerer ausprägten.

Die Ernährungssituation, die hygienischen Bedingungen und der Gesundheitszustand innerhalb der napoleonischen Armee können aus heutiger Sicht als mangelhaft beschrieben werden. Länger währender Hunger und Nährstoffmangel, unzureichende Körperhygiene und ein schlechter allgemeiner Gesundheitszustand der Soldaten zeigen sich am Skelett. Ebenso lassen sich Hinweise auf Traumata und Schädelverletzungen sowie deren medizinische Versorgung finden. Bei einem Viertel der Individuen konnte eine klassische Cribra orbitalia und bei fast einem Drittel der Soldaten eine Cribra femoris diagnostiziert werden, beides morphologische Veränderungen, die häufig durch vielfältige Stressphasen oder ernährungsbedingten Mangel wichtiger Nährstoffe in der Entwicklung ausgelöst werden können, bspw. durch eine einseitige Ernährung. Fast jedes Individuum des Skelettkollektivs wies mindestens eine Kariesläsion auf, deren Entstehung durch die Aufnahme kohlenhydratreicher Nahrung gemeinsam mit einer schlechten Mundhygiene begünstigt wird. Ähnlichen Ursachen erklären auch die ebenfalls gehäuft auftretenden anderen Dentalpathologien, bspw. Zahnstein und Stomatitis. Für die schlechten hygienischen Bedingungen können die entzündlichen Veränderungen auf den Schädelkalotten bei zwei Drittel der untersuchten Individuen ebenfalls hinweisgebend sein, da sie auf einen Lausbefall der Soldaten hindeuten. Daraus abgeleitet werden die historischen Überlieferungen gestützt, dass die in Rödelheim bestatteten Individuen sich mit dem Typhus bzw. einer typhusähnlichen Erkrankung ansteckten und daran starben. Molekulargenetisch konnte diese These jedoch bislang nicht bestätigt werden. Weitere Infektionserkrankungen, die im direkten Zusammenhang mit infizierten Verletzungen (Osteomyelitis) oder dem generellen Leben in der Armee stehen, bspw. der Syphilis oder Tuberkulose, konnten an einigen Skeletten morphologisch identifiziert und in Einzelfällen mikroskopisch bzw. molekulargenetisch bestätigt werden. Eine Vielzahl gut verheilter Frakturen am postkranialen Skelett deuten auf eine zumindest rudimentäre medizinische Versorgung der Individuen hin. Ob dieses im militärischen Kontext oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt geschah, ist an den Knochen nicht ablesbar. Mögliche Parierfrakturen an drei linken Ellen, Schnittverletzungen an Hand- und einem Oberarmknochen sowie Hiebverletzungen an Schädeln von über 30 Individuen können als Ausdruck interpersoneller Gewalt gedeutet werden. Keine dieser Verletzungen war offensichtlich todesursächlich. Einige Verletzungen waren vollständig verheilt, sodass keine Rückschlüsse zum Entstehungszeitpunkt gezogen werden konnten. Andere zeigten deutliche Heilungsspuren, sodass die Verletzungen mindestens eine Woche zurückgelegen haben müssen, was auf eine Teilnahme der Individuen an den Schlachten der Befreiungskriege hindeutet.

Geschichtliche Überlieferungen haben häufig ihren Ursprung in Einzelschilderungen aus Soldatenbriefen, in denen Männer ihren Alltag in der napoleonischen Armee beschreiben. Im Rahmen dieser Arbeit wurde gezeigt, dass diese teils subjektiven Wahrnehmungen einzelner Männer zum Leben in der Armee durchaus generalisiert werden können. Am Skelettkorrelat konnten durch die paläopathologischen Untersuchungen zahlreiche Hinweise gefunden werden, dass die Soldaten ein entbehrungsreiches Leben gelebt haben, in dem sie von Hunger und Mangelzuständen, schlechten hygienischen Bedingungen sowie andauernder (Über-)Belastung betroffen waren. Der allgemein schlechte Gesundheitszustand und das Auftreten zahlreicher Infektionskrankheiten scheinen ein generelles Problem innerhalb der napoleonischen Armee gewesen zu sein, was auch bereits in anderen Studien gezeigt wurde.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnten darüber hinaus über die genetischen Analysen unsere Kenntnisse über die Rekrutierungsstrategie Napoleons nach dem Russlandfeldzug naturwissenschaftlich untermauert werden. So konnten eindeutige Hinweise gefunden werden, dass die geschichtlichen Überlieferungen zutreffen, dass Napoleon 1813 deutlich jüngere Männer bzw. Jugendliche verpflichtete, um die großen personellen Verluste aus dem Russlandfeldzug auszugleichen. Durch die molekulargenetischen Daten kann darüber hinaus belegt werden, dass er die jugendlichen Individuen wohl fast ausschließlich im Kerngebiet Frankreichs rekrutierte, wohingegen die älteren Soldaten seiner „Stammarmee“ eine höhere Diversität der genetischen Profile aufweisen, die eine Rekrutierung auch weiter östlich, bspw. bei seinen damaligen Verbündeten der Rheinbundstaaten, nahelegt. Somit konnte die vorliegende Arbeit nicht nur die geschichtlichen Überlieferungen zum Leben in der napoleonischen Armee bestätigen, sondern sie um Informationen hinsichtlich der biogeographischen Herkunft der Individuen entscheidend erweitern.