Narrative Identitätskonstruktionen - Alteritätskonstituierungen in Selbstdarstellungen von ehemaligen Mitgliedern linksterroristischer Gruppierungen

Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Laufzeit: 1.07.2008 bis 30.06.2011


Im Rahmen des Projekts „Narrative Identitätskonstruktionen. Alteritätskonstituierungen in Selbstdarstellungen von ehemaligen Mitgliedern linksterroristischer Gruppierungen“ wurden Autobiografien und veröffentlichte Interviews von ehemaligen Angehörigen der „Rote Armee Fraktion (RAF)“, der „Bewegung 2. Juni“ sowie der „Revolutionären Zellen (RZ)“ systematisch auf der inhaltlich-hermeneutischen, formalen und funktionalen Ebene analysiert, narrative Identitäts- und Alteritätskonstruktionen der Erzähler/innen auf der Basis sowohl von „case studies“ als auch vergleichenden Untersuchungen herausgearbeitet und die Ergebnisse historisch kontextualisiert.

Im Fokus des inhaltlich-hermeneutischen Forschungsinteresses standen dabei Konstituierungen von Alterität. Im Fokus der hermeneutischen Analysen stand das Leitkonstrukt „Alterität“, das als vielschichtiges Phänomen verstanden und entsprechend mehrdimensional erfasst wurde. Die Analyse orientierte sich dabei an ausgewählten relevanten Stationen terroristischer „Karrieren“: dem Einstieg in die – zunächst linksalternative, später terroristische – Szene und dem Leben in der Illegalität, der Fahndung, Verhaftung und Inhaftierung und schließlich dem Ausstieg.

Diese auf die Inhalte der Texte abzielenden Untersuchungen wurden ergänzt durch solche auf der formalen Ebene (Erfassung sprachlicher Charakteristika) sowie auf der funktionalen Ebene (Untersuchung der Erzählfunktion des Rechtfertigens).

Die kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse untersucht lebensgeschichtliche Erzählungen vor allem im Hinblick auf Inhalte und Funktionen. Derartige Narrationen sind jedoch immer auch sprachliche Konstruktionen und damit das Ergebnis formaler Gestaltungsfreiheit. Untersuchungen narrativer Identitätskonstruktionen sollten daher nicht nur die inhaltlich-hermeneutische, sondern auch die sprachlich-formale Ebene in den Blick nehmen. Sinnvoll erschien deshalb eine Verbindung zwischen Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Erzählforschung und solchen der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie.

Insgesamt hat sich die dialogische Verbindung von Inhalt und Form, Text und Kontext für die Rekonstruktion narrativer Identitätskonstituierungen als besonders fruchtbar erwiesen: Sie verstärkt die Sensibilität für deren sprachliche Gestaltung und trägt zu schärferen Fokussierungen der hermeneutischen Analyse bei.

Die narrativen Selbstdarstellungen wurden nicht nur auf der inhaltlich-hermeneutischen und der sprachlich-formalen Ebene auf identitäts- und Alteritätskonstruktionen untersucht, sondern auch auf der funktionalen Ebene. Hier ging es um die Frage, mit welchen narrativen Mitteln die Erzähler/innen sich im sozialen Raum positionieren und eine soziale Beziehung gestalten, die sie mit den – vorgestellten – Rezipienten ihrer Selbstdarstellungen verbindet. Im Fokus der funktionalen Analysen stand die Untersuchung von Rechtfertigungsgeschichten. Durch die Analyse von Rechtfertigungsgeschichten lassen sich daher zum einen Präsenz und Geltungsbereich kultureller Normen erfassen, zum anderen diejenigen Strategien, auf die in bestimmten (Teil-)Gesellschaften zurückgegriffen wird, wenn es um die Erklärung fragwürdiger Handlungen geht.
Die Ergebnisse des Projekts zeigen die Prozesshaftigkeit des Anderswerdens im Kontext verschiedener Stationen terroristischer Karrieren auf, machen die Vielschichtigkeit von Alteritätskonstituierungen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene deutlich und belegen die Bedeutung formaler und funktionaler Aspekte im Rahmen narrativer Selbstdarstellungen. Durch die Berücksichtigung der Binnenperspektive der ehemaligen Akteure erweitern sie zudem die diskursive Auseinandersetzung mit einem bedeutsamen Abschnitt der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte.


Publikationen


  • Bährens: Meike: „Ich kenne viele, die an diesem Tag einen Knacks gekriegt haben.“ – Die Ereignisse des 2. Juni 1967 als Krise. In: Fensterplatz – Zeitschrift für Kulturforschung 1 (2009) 34-43.
  • Bährens, Meike: „Ein Leben für ein Leben.“ Narrative Identitätskonstruktionen von Opfern, Tätern und Rächern. In: Schmidt-Lauber / Schwibbe 2010, 33–44.
  • Schmidt-Lauber, Brigitta: Erzählen vom Anderssein und Anderswerden. Eine Einführung. In: Schmidt-Lauber / Schwibbe 2010, 7–12.
  • Schmidt-Lauber, Brigitta / Schwibbe, Gudrun (Hg.): Alterität. Erzählen vom Anderssein. Göttingen 2010 (Göttinger kulturwissenschaftliche Studien, 4).
  • Schwibbe, Gudrun: „Wir müssen die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte endlich selbst anpacken“. Rechtfertigung und Verantwortung im Kontext der „Geschichte der RAF“. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung. Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag. Berlin 2009, 85–99.
  • Schwibbe, Gudrun: Anderssein. Zur Mehrdimensionalität narrativer Alteritätskonstruktionen. In: Schmidt-Lauber / Schwibbe 2010, 13–31.
  • Schwibbe, Gudrun: Ich, wir und die anderen. Zu narrativen Identitätskonstruktionen ehemaliger Linksterroristen. In: Fabula 51:1/2 (2010) 23–37.
  • Schwibbe, Gudrun: Leben im Untergrund. Narrative Alteritätskonstruktionen ehemaliger Linksterroristen. In: Kulturen 4:2 (2010) 34–53.
  • Schwibbe, Gudrun: Erzählungen vom Anderssein. Linksterrorismus und Alterität. Münster u.a.: Waxmann, 2013.
  • Schwibbe, Gudrun: "Schlimmer als auszusteigen ist langsam in der RAF zu zerbrechen." Narrative Identitäts- und Alteritätskonstruktionen von ehemaligen Mitgliedern linksterroristischer Gruppierungen. In: Zeitschrift für Volkskunde 109:1 (2013) 55-75.

  • Kontakt:

    apl. Prof. Dr. Dr. Gudrun Schwibbe: gschwib@gwdg.de