Kunstwerk des Monats im Februar 2014


02. Februar 2014
"Kunstgenuss für den Gentleman: Eine Daktyliothek von James Tassie in Göttingen"
Vorgestellt von: Dr. Daniel Graepler (Akademischer Oberrat und Kustos der Sammlung)

Kunstwerk des Monats Februar 2014 DaktyliothekDie Universität Göttingen beherbergt wohl schon seit Napoleons Zeiten eine Kost­barkeit, deren wahrer Wert erst unlängst erkannt wurde. Es handelt sich um ein kunstvoll verziertes Schub­laden­schränkchen für Gemmen­abdrücke, eine sogenannte Daktyliothek.

Gemmen, Schmucksteine mit vertieft ein­ge­schnittenem Bild­dekor, die man meist als Siegelringe trug, und Cameen, Miniaturreliefs aus Onyx und anderen mehrfarbigen Halbedelsteinen waren bei Griechen und Römern ausgesprochen begehrt. Auch im Mittelalter hielt man sie in Ehren, denn in dieser Zeit schrieb man ihnen magische Wirkungen zu. Seit der Renaissance begannen sich dann auch Gelehrte und vornehme Sammler, für die antike Stein­schneide­kunst zu interessieren. Im 18. Jahrhundert wurde die Beschäftigung mit antiken Gemmen zu einer regelrechten Mode. Es erschienen zahlreiche, üppig illustrierte Publikationen zum Thema, aber Kenner der Materie waren mit den traditionellen Abbildungsmethoden nicht mehr zufrieden.

Statt stilistisch ungenauer Kupferstiche bevorzugten sie plastische Abdrücke der originalen Gemmen­bilder aus Siegellack, Gips, verflüssigtem Schwefel oder Glas. Die Abdrücke wurden oft in Kästen eingeklebt und in Kabinett­schränkchen oder buchförmigen Behältern verwahrt. Mit einem antiken griechischen Begriff nannte man sie Daktyliotheken, wörtlich übersetzt "Fingerringsammlungen".

Das Archäologische Institut der Universität besitzt zahlreiche Dakyliotheken aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Unter ihnen ragt jenes Schränkchen durch sein prachtvolles Äußeres hervor: Die Oberfläche ist in mindestens fünf verschiedenen Edelholzarten furniert, die Türen sind mit ovalen Relief­medaillons verziert. Sie zeigen antike Dichter-, Philosophen- und Kaiserköpfe und in der Mitte je ein weibliches Porträt. In 30 Schubladen im Inneren des Schränkchens sind 1381 Gemmen­abdrücke in rotem Schwefel und mehr als 50 Gemmen­nach­bildungen in verschiedenfarbigem Glas untergebracht. Zwei Geheim­schubladen sind für pikante Darstellungen reserviert.

Offenbar gehörte diese Sammlung einem englischen Gentleman, der die antike Kunst, aber auch manch andere Genüsse zu schätzen wusste. Seine Identität konnte leider noch nicht geklärt werden - wohl aber die genaueren Umstände der Entstehung der Daktyliothek: Sie wurde im Winter 1786/87 in der Londoner Werkstatt des damals sehr bekannten schottischen Ab­formers James Tassie (1735-1799) gefertigt. Weitere Nachforschungen führten bis an den Zarenhof Katharinas der Großen, einer passionierten Gemmen­sammlerin, und beleuchteten auch die enge Zusammen­arbeit zwischen ­Tassie und Rudolf Erich Raspe, einer der schillerndsten Persönlich­keiten in der europäischen Gelehrtenwelt des späten 18. Jahrhunderts, berühmt vor allem als Erstautor der Abenteuer des Barons Münchhausen.

Als ein wichtiges Zeugnis für die vielschichtige Auseinander­setzung mit der Antike in dieser Zeit wird Tassies Daktyliothek gegenwärtig in der Ausstellung "Abgekupfert. Roms Antiken in den Reproduktions­medien der Frühen Neuzeit" gezeigt, die noch bis zum 16. Februar in der Kunstsammlung und in der Sammlung der Gipsabgüsse der Universität Göttingen zu sehen ist.