Mapping Global City Istanbul: Stadtethnografische und alltagskulturelle Erkundungen einer Metropole

Digitale Ausstellungs-Webpage

Istanbul als neue Global-City Europas ist seit den vergangenen Jahrzehnten ausgeprägten Transformations- und Gentrifizierungsprozessen unterworfen. Massive städtische Umbauprojekte werden in den vergangenen Jahren unter dem Diskurs der Modernisierung des Lebensstandards und der Wohnqualität durchgeführt oder ganze Stadtteile abgerissen. Daran entzünden sich soziale Konflikte und Auseinandersetzungen im urbanen Raum. In dem ethnographischen Forschungsseminar Global City Istanbul (Wintersemester 2013/2014 und Sommersemester 2014) erforschten die Studierenden unter Anleitung und Einübung ethnografischer Forschungsmethoden, die verschiedenen Auswirkungen der gegenwärtigen Transformationsprozesse in einer globalen Metropole. Inhaltliche Schwerpunkte bildeten hier Metropolenforschung, ethnographische Stadtforschung der europäischen Ethnologie, Migrationsforschung, Queer Studies sowie postkoloniale Stadttheorie. Zentraler Forschungskernpunkt bildete die im Mai 2014 stattgefundene Exkursion nach Istanbul. Die Forschungsexkursion wurde durch Stadtteilrundgänge und Vorträge von ExpertInnen vor Ort (z.B. StadtforscherInnen der Bogazici Universität, StadtteilaktivistInnen, MitarbeiterInnen von Stadtteilsanierungsbüros, migrantischen Selbstorganisationen etc.) begleitet. Die Studierenden trafen sich außerdem mit politischen AktivistInnen, afrikanischen und syrischen Flüchtlingen in den Istanbuler Vierteln Kadiköy, Besiktas, Beyoglu und Tarlabasi. Zudem widmeten sich die einzelnen Forschungsgruppen ihren individuellen Felderkundungen und stadtethnografischen Einzelprojekten, welche mit Abschluss des Sommersemesters 2014 gemeinsam auf einer entstehenden Webpage miteinander verknüpft und präsentiert werden sollen.

Hier geht es zur fertigen digitalen Ausstellungs-Webpage, welche auch künftig um Material und weitere Forschungsprojekte erweitert werden soll.


Die Einzelprojekte

Die Forschungsgruppe Erasmus in Istanbul (Anna Schäfer, Laura Lamping) beschäftigt sich mit dem Alltagsleben von Erasmus-Studierenden in Istanbul und wie diese das Stadtbild mitgestalten und beeinflussen. Im Hintergrund der Beschäftigung mit dem Erasmus-Leben in Istanbul stand die Überlegung, ob auch Erasmus-Studierende zu Gentrifizierungsprozessen beitragen. Der Fokus während der Forschung vor Ort lag zunächst auf der Wohnsituation der Studierenden. Neben der Erkenntnis, dass es durchaus einige ´Ballungsgebiete´ von Wohnraum für Erasmus-Studierende gibt, offenbarte sich außerdem eine vielfältige Erasmus-Szene, deren Akteure auch mit andere Themengebieten der Stadtforschung in Verbindung stehen. Zum Feld zählen nicht nur Erasmus-Studierende, sondern auch die Erasmus-Koordinatoren und Aktiven an den Universitäten sowie Studienorganisationen, die sich an der Wohnungsvermittlung beteiligen. Das Ziel der Darstellung der Ergebnisse soll es sein, das Erasmus-Label zu dekonstruieren und im Gegenzug die vielfältigen Handlungsebenen und -muster der verschiedenen Akteure im weiten Feld Erasmus zu visualisieren.

Außerdem setzen sich Anne Patscheider und Nora Kühnert mit der squatting-szene in der Stadt als Nachfolge-Bewegung der Gezi-Proteste 2013 auseinander. Im Fokus der Forschung vor Ort stand einerseits Haus-Besetzung als politische Praxis und andererseits der Zusammenhang von Forderungen politischer Kämpfe seit den 1960er Jahren in Istanbul mit dem ökonomischen, städtebaulichen- und politischen Wandel der Stadt. Ziel ist es, die politische Praxis der Raumaneignung durch Hausbesetzung in der squatting-Szene heute nicht nur historisch in die Protestbewegungen in Istanbul sondern auch in einen globalen Kontext einzuordnen und mit Neoliberalisierungs-, Urbanisierungs- und Modernisierungsprozessen in Verbindung zu bringen.

Des Weiteren widmen sich Margaux Erdmann, Susanne Klenke, Laura Stonies und Svetlana Stojanovic der "noch jungen, aber sehr vitalen" LGBTIQ*-Bewegung in Istanbul, die wie viele andere politische und gesellschaftliche Communities befürchtet "innerhalb von fünf Tagen alles zu verlieren, was man sich in den letzten Jahren erarbeitet hat". Das Projekt LGBTI in Istanbul beleuchtet am Beispiel des Alltags von queeren Personen ihr Leben als LGBTI im städtischen Raum und verschafft - die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Queers diskutierend - Einblicke in die durch die LGBTI erwirkten städtischen Transformationsprozesse.

In einem weiteren Projekt von Mathias Fiedler wird die Situation von Flüchtlingen im Transitland Türkei, insbesondere Istanbul, beleuchtet. Dabei soll vor allem auf das Schicksal syrischer Flüchtlinge eingegangen werden, deren Weg nach Europa vielfach über die Türkei und damit Istanbul führt. Neben unterschiedlichen Strategien werden verschiedene Wege beleuchtet, welche die Menschen bis an die Grenzen Europas, aber auch darüber hinaus führt. Dabei soll versucht werden, die von Flüchtlingsorganisationen vielfach beschriebene 'Festung Europa' zu erforschen und über qualitative Interviews mit verschiedenen AkteurInnen begreifbar und plastisch werden zu lassen. Hierzu wurde ein Detention Center in Istanbul besucht und es fanden Gespräche mit türkischen BeamtInnen, sowie sozialen und politischen AktivistInnen statt. Zusätzlich wurden mehrere Interviews mit geflüchteten Menschen in Istanbul, Edirne und Sofia geführt.

Im Rahmen der Erforschung von Migrationsrouten syrischer Flüchtlinge in und über die Türkei sollen auch über Bildungs-und Stipendienprogramme eröffnete Wege aus dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land aufgezeigt werden. Hierzu führte Lisa Szepan vor Ort in Istanbul Interviews mit syrischen Studierenden der privaten Istanbul Sehir Universität im Stadtteil Üsküdar, in denen die Geflüchteten von ihrem Weg aus Syrien nach Istanbul, ihrer Wahrnehmung des Lebens an der internationalen Universität und für sie bedeutsame Orte in der Stadt, erzählten. Weitergehend wird die Arbeit wohltätiger syrischer Stiftungen mit der Politik der türkischen Regierung gegenüber syrischen Flüchtlingen im Allgemeinen ins Verhältnis gesetzt um die vielfältigen Strategien individueller und institutioneller AkteurInnen in der Eröffnung von Mobilitätspotenzialen sichtbar zu machen.

Lea Stövers besonderes Interesse hat sich im Laufe des Seminars und während des Aufenthaltes in Istanbul auf Street Art gerichtet. Angeregt durch Berichte über die Gezi Proteste 2013, die immer wieder auch die künstlerische Seite des Protests thematisierten, hat sie sich insbesondere dafür interessiert, inwiefern Street Art eine Form des Ausdrucks der Protestierenden in Istanbul geworden ist. Während des Aufenthaltes in Istanbul ist sie auf die verschiedenen Dimensionen von Street Art aufmerksam geworden, worunter der politische Protest "neben zweckgerichteter Street Art als Verschönerungsmaßnahme oder als Werbemedium und der reinen künstlerischen Gestaltung des öffentlichen Raumes" nur eine Dimension darstellt. Diese Vielseitigkeit von Street Art zeigt wie eine Kunstform von verschiedenen AkteurInnen genutzt wird - deren Aufarbeitung und Abbildung zeigt verschiedene Transformationsprozesse in der Stadt auf.


Studierende:
Nora Kühnert
Lisa Szepan
Anne Patscheider
Margaux Jeanne Erdmann
Laura Lamping
Anna Schäfer
Laura Stonies
Svetlana Stojanvic
Susanne Klenke
Mathias Fiedler
Lea Stöver


Supervision durch:
Dr. Gerda Heck
Prof. Dr. Sabine Hess
Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie