Plastizität von Entwicklungsprozessen

Wir untersuchen die Plastizität der frühen Embryonalentwicklung von Insekten im Hinblick darauf, wie sich diese im Laufe der Evolution verändert haben könnte. Dabei gestalten wir die frühe Embryonalentwicklung der abgeleiteten Taufliege Drosophila melanogaster so um, wie man sich vorstellt, dass sie in primitiveren Insekten abläuft. Wir versuchen vorstellbare, evolutionäre Zwischenstufen durch eine Art künstlicher "De-Evolution" zu kreieren. Dabei konzentrieren sich unsere Ansätze auf die Entfernung der maternalen Determinante Bicoid aus dem Musterbildungsnetzwerk von Drosophila. Bicoid steuert als Morphogen über einen Konzentrationsgradienten einen Großteil der Musterbildungsprozesse des Drosophila Embryos, die für die Ausbildung des Kopfes und des Brustabschnitts wichtig sind. Das Gen bicoid scheint jedoch eine evolutionär junge Errungenschaft der höheren Dipteren zu sein, die vermutlich die rasche Embryonalentwicklung dieser Insektengruppe ermöglicht. In Drosophila zeigt bicoid redundante Aktivitäten zu anderen maternalen Determinanten (Schaeffer et al., 2000) und scheint einen großen Teil der Kontrolle der Musterbildungsprozesse übernommen zu haben. Daher sollten die ursprünglichen Prozesse der Insekten-Embryonalentwicklung bei höheren Dipteren eine untergeordnete Rolle spielen. In unserem "De-Evolutions"-Ansatz versuchen wir nun die Bicoid-Funktion aus dem genetisch gut manipulierbaren Drosophila-Embryo zu entfernen. Den Verlust kompensieren wir durch Stärkung anderer Gene, die evolutionär im Tierreich konserviert sind und für die eine entscheidende Rolle in der Embryonalentwicklung anderer Organismen angenommen wird. Vor kurzem konnten wir zeigen, dass durch eine Stärkung des Morphogens Hunchback der Thorax des Drosophila Embryos auch in Abwesenheit von Bicoid gebildet werden kann (Wimmer et al., 2000). Durch diese genetische Bastelei an den vergleichsweise plastischen Mechanismen der frühen Embryonalentwicklung konnten wir die Ontogenese von Drosophila in einen angenommen, ursprünglicheren Zustand zurückversetzen. Zur Zeit versuchen wir Bicoid auch bei der Musterbildung des Kopfes zu ersetzen, wobei sich unsere Ansätze auf Verstärkung der evolutionär-konservierten, anterioren Determinante Orthodenticle stützen. Durch diese Basteleien werden allein die Muster und Stärken der Expression vorhandener Gene verändert. Derartige kleine Änderungen stellen auch die wahrscheinlichsten Grundlagen für Evolutionsmechanismen dar. Denn, wie François Jacob bereits 1977 formulierte, 'benötigten nur die wenigen großen Schritte in der Evolution den Erwerb neuer Information. Spezialisierung und Diversifikation dagegen geschahen durch die unterschiedliche Benutzung derselben strukturellen Information. ... Es ist mehr eine Sache der Regulation als der Struktur'.
Projektleitung:
Prof. Dr. Ernst A. Wimmer