Thomas Mann: Der Zauberberg (1924). Roman

Inhalt


Eine kohärente Inhaltswiedergabe von Thomas Manns Der Zauberberg scheitert bereits daran, dass es sich um einen Roman über „all of Europe“ (Susan Sontag) handelt. Im Folgenden soll dennoch ein kurzer Überblick über die Handlung gegeben werden.
Sieben Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs reist Hans Castorp in den Schweizer Lungenkurort Davos, um dort seinen tuberkulosekranken Vetter Joachim zu besuchen und sich selbst von leichten Erschöpfungssymptomen zu erholen. Ursprünglich auf drei Wochen angesetzt, verlängert sich Castorps Aufenthalt im Sanatorium Berghof aufgrund eines Befunds des skurrilen Oberarztes Hofrat Behrens auf zunächst unbestimmte Zeit. Anfangs befremdet von der Atmosphäre und den gesellschaftlichen Umgangsformen im Sanatorium, gewöhnt Castorp sich bald so sehr an die Verhältnisse „hier oben“ (Mann 2002, u.a. S. 20), dass er den vagen Diagnosen des Oberarztes bereitwillig Glauben schenkt.
„Schon ganz mit historischem Edelrost überzogen“ (ebd., S. 9), präsentiert Der Zauberberg mit den Berghof-Patienten die europäische Oberschicht der Vorkriegszeit. So macht Hans Castorp die Bekanntschaft mit dem beredten italienischen Republikaner und Literaten Settembrini. Dieser nimmt zeitweise eine Art Mentor-Funktion für den leicht beeinflussbaren Castorp ein. In der Praxis stößt die „plastisch“ (ebd., u.a. S. 538) vorgetragene Vernunftemphase Settembrinis bei Castorp aber nicht auf Resonanz: Die Versuche, den jungen Ingenieur zu einer baldigen Abreise aus dem von Krankheit, Müßiggang und Exaltation gleichermaßen geprägten Kurort zu bewegen, scheitern.
Zudem fesselt die etwas ältere Clawdia Chauchat die Aufmerksamkeit des „einfachen, wenn auch ansprechenden“ (ebd., S. 9) Castorp. Obzwar dieser wenig bemüht ist, seine Neigung zu verbergen, kommt es erst hunderte Seiten später, im Kapitel „Walpurgisnacht“, zu einer Annäherung zwischen den beiden. Figuren wie Dr. Krokowski, der später hinzukommende Leo Naphta sowie der im letzten Kapitel auftretende Mynheer Peeperkorn üben ebenfalls auf je eigene Art Faszination auf Castorp aus. Hervorzuheben ist Naphta, der seine kommunistische und totalitäre Weltanschauung mit einer ähnlichen Gelehrsamkeit und Wortgewandtheit verteidigt wie Settembrini seinen Aufklärungsoptimismus. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endet der Aufenthalt des Anti-Helden Castorp im Schweizer Hochgebirge jäh.
Unterteilt ist der Roman in sieben große Kapitel, die ihrerseits in Unterkapitel aufgeteilt sind. Kennzeichnend für die Erzählweise des Romans sind nicht nur lange Gespräche über politische, religiöse und weltanschauliche Fragen, sondern auch humoristisch dargestellte Tischgespräche. Zahlreiche essayistische Passagen, vor allem zum Thema Zeit, sowie poetische Schilderungen des Hochgebirges ziehen sich durch den Roman. Der Erzählton ist von Manns unverkennbarer Ironie geprägt, aber vereinzelt auch von Pathos – so im berühmten ,Schneetraum‘ Hans Castorps oder auch zum Schluss des Romans. Einen ersten Eindruck des Stils vermitteln bereits die Titel der Unterkapitel, von denen manche sprichwörtlich geworden sind: „Ehrbare Verfinsterung“, „Die große Gereiztheit“ und etwa „Der Donnerschlag“.
Der Zauberberg ist weitgehend als realistischer Roman angelegt. Durch unzählige Anspielungen auf biblische, mythologische und ideengeschichtliche Topoi, durch konsequent betriebene symbolische Überformung wird er schließlich doch zu sehr viel mehr – mindestens zu einem Roman über „all of Europe“.

Einordnung


Zu seinen Lebzeiten bereits erfolgreicher Schriftsteller, gilt er heutzutage als einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts: Thomas Mann, geboren 1875 in Lübeck, gestorben 1955 in Zürich, verfasste zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays, erhielt 1929 den Literaturnobelpreis und engagierte sich im Exil gegen den Nationalsozialismus. Einen Namen machte er sich mit seinem 1901 erschienenen Roman Buddenbrooks, 1912/13 wurde seine Künstlernovelle Der Tod in Venedig veröffentlicht, die international auf Resonanz stieß (vgl. Kurzke 2010, S. 310). Als deren „Art von humoristischem Gegenstück“ (Sprecher et al. 2002, S. 527) konzipierte Thomas Mann im Jahr 1913 zunächst seinen Roman Der Zauberberg (vgl. Neumann 2002, S. 13).
Nur ein Jahr später partizipierte er essayistisch an der Begeisterung über den „Donnerschlag“ (Mann 2002, S. 1007) des Ersten Weltkrieges, diesem „Weltfest des Todes“ (ebd., S. 1085), wie der Krieg zehn Jahre später in retrospektiver Distanznahme im Zauberberg (1924) beschrieben wird. Mann pausierte das Romanprojekt in den Jahren 1915 bis 1919 zugunsten seiner 1918 publizierten Betrachtungen eines Unpolitischen, einem von der Forschung nicht zuletzt als reaktionär bezeichneten politischen Großessay (vgl. dazu Sina 2024, S. 49-57).
Thomas Manns sich 1922 manifestierende geistige Hinwendung zur Demokratie war maßgeblich von seiner „Idee einer neuen Humanität“ (Eschenburg 2025, S. 7) beeinflusst, die sich auch im Zauberberg niederschlug. Er selbst schreibt 1919, das „Grundthema“ des Werks sei „Romantik und Aufklärung, Tod und Tugend“ (Sprecher et al. 2004, S. 294) – Sujets, die in den politisch-philosophischen Disputen etwa der Figuren Naphta und Settembrini verhandelt werden und in der einzigen im Buch kursiv gesetzten Erkenntnis des Protagonisten Castorp gipfeln: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ (Mann 2002, S. 748). Auch die Themen der Heimsuchung, der Krankheit, des Begehrens und des Mythos (vgl. Marx 2025, S. 29 f.) finden ihren Ausdruck im als Zeit- und Ideenroman sowie als ironisierende Weiterentwicklung des Bildungsromans bezeichneten Werk, das sich formal durch die Leitmotivtechnik auszeichnet (vgl. Kaiser 2025).

Literaturangaben


  • Blödorn, Andreas / Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2015.
  • Detken, Anke / Tom Kindt / Kai Sina (Hg.): Zauberberg-Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2025.
  • Eschenburg, Barbara: Entstehungsgeschichte. In: Detken / Kindt / Sina (2025), S. 3–9.
  • Kaiser, Gerhard: Leitmotivtechnik. In: Detken / Kindt / Sina (2025), S. 87–96.
  • Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München: C.H. Beck 2010.
  • Mann, Thomas: Der Zauberberg. Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002.
  • Marx, Friedhelm: Werkgeschichtliche Einordnung. In: Detken / Kindt / Sina (2025)S. 25–35.
  • Neumann, Michael: Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Kommentar. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002.


Ausgaben


  • Mann, Thomas: Der Zauberberg. Roman. Hg. und textkritisch durchgesehen v. Michael Neumann. Frankfurt a.M.: S. Fisher 2002. (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2001 ff., Bd. 5.) (SDP-Bibliothek, Signatur: W-MA 50 1/8:5,1)
  • Mann, Thomas: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991.


Weiterführende Literatur / Ressourcen


  • Detken, Anke / Tom Kindt / Kai Sina (Hg.): Zauberberg-Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2025.
  • Blödorn, Andreas / Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2015.
  • Neumann, Michael: Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Kommentar. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002.
  • Deutsche Thomas Mann-Gesellschaft


Lesedauer


  • Seitenzahl: 1085 Seiten
  • Hörbuch: Ungekürzte Lesung, gelesen von Thomas Sarbacher: 38 Stunden, 36 Minuten


Leseprobe


„»Ach so, du fährst wohl schon wieder nach Hause in deinen Gedanken«, antwortete Joachim. »Nun, warte nur, du kommst ja eben erst an. Drei Wochen sind freilich fast nichts für uns hier oben, aber für dich, der du zu Besuch hier bist und überhaupt nur drei Wochen bleiben sollst, für dich ist es doch eine Menge Zeit. Erst akklimatisiere dich mal, das ist gar nicht so leicht, sollst du sehen. Und dann ist das Klima auch nicht das einzig Sonderbare bei uns. Du wirst hier mancherlei Neues sehen, pass auf. Und was du von mir sagst, das geht denn doch nicht so flott mit mir, du, ›in drei Wochen nach Haus‹, das sind so Ideen von unten. Ich bin ja wohl braun, aber das ist hauptsächlich Schneeverbrennung und hat nicht viel zu bedeuten, wie Behrens auch immer sagt, und bei der letzten Generaluntersuchung hat er gesagt, ein halbes Jahr wird es wohl ziemlich sicher noch dauern.«
»Ein halbes Jahr? Bist du toll?«, rief Hans Castorp. Sie hatten sich eben vor dem Stationsgebäude, das nicht viel mehr als ein Schuppen war, in das gelbe Kabriolett gesetzt, das dort auf steinigem Platze bereit stand, und während die beiden Braunen anzogen, warf sich Hans Castorp empört auf dem harten Kissen herum. »Ein halbes Jahr?, du bist ja schon fast ein halbes Jahr hier! Man hat doch nicht so viel Zeit –!«
»Ja, Zeit«, sagte Joachim und nickte mehrmals geradeaus, ohne sich um des Vetters ehrliche Entrüstung zu kümmern. »Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen. Du wirst schon sehen. Du wirst das alles schon lernen«, sagte er und setzte hinzu: »Man ändert hier seine Begriffe.«“

(Zitat: Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002/2025; frei verfügbare Leseprobe des S. Fischer Verlags)

Was finden wir an dem Text interessant?


Alltagsfern und bisweilen märchenhaft, umweht von Zauber und Morbidezza – die Sanatoriumswelt im Hochgebirge hat uns von Anfang an in ihren Bann geschlagen. Dieser Mikrokosmos entwickelt einen unwiderstehlichen Sog, sobald man sich auf die wunderbar grotesken Figuren mit ihren charakteristischen Sprechweisen, die humoristischen Schilderungen der täglichen Abläufe sowie auf die malerisch beschriebene Landschaft einlässt. Die kunstvoll-irisierende, gewundene und doch von höchster Akkuratesse gezeichnete Sprache Thomas Manns ist ein Erlebnis; Komik und philosophische Erörterung wechseln einander stetig ab oder finden gleichzeitig statt – das macht den Roman zu einer Bildungserfahrung, die ihresgleichen sucht.

Diana Muth (M.A.-Studierende) / Jakob Malzahn (M.A.-Studierender)