Dr. Marcus Willand (Stuttgart)


Autorfunktion und Rezeption. Siegfried Lenz' Deutschstunde und das Problem, das man ihr machte


Respondent: Prof. Dr. Gerhard Kaiser (Göttingen)


Zeit: 27. November 2014, 18h c.t.
Ort: Raum VG 3.102 (Verfügungsgebäude, Platz der Göttinger Sieben 7, 37073 Göttingen).


Abstract

Im Zuge der Nolde-Retrospektive im Frankfurter Städel kam es im Sommer 2014 zu einer Neuauflage der Diskussion um Lenz' Deutschstunde. Es wurde vermeintlich neues Wissen über den Maler Emil Nolde bekannt und schwirrte in Form skandalträchtiger Vokabeln durch die deutsche Medienlandschaft. Ab einem gewissen Punkt wurde dabei an den realen Autor Siegfried Lenz der Vorwurf gerichtet, er habe »Geschichtsklitterung« betrieben: immerhin sei der als Emil Hansen geborene Nolde in Lenz' Buch - ein fiktionaler Maler namens Max Ludwig Nansen - durchweg positiv dargestellt. Und dieses positive »Alter Ego« oder »Alias«, wie die gängigsten Formeln für das Verhältnis von fiktionaler Figur zu ihrem realem Vorbild lauten, das den Maler als Widerstandskämpfer zeichne, passe nun nicht mehr mit dem vermeintlich neuen Wissen über den echten Nolde zusammen: Denn dieser äußerte sich vor und nach '45 wiederholt und dezidiert antisemitisch. Dergestalt konfligierende Personenkonzepte führen letztlich zu der Forderung, dass die »Wirkungsgeschichte des Romans [...] umgeschrieben werden« müsse (J. Hieber, FAZ).
Was diese Forderung im Kern bedeutet, wie sie entsteht, ob sie gerechtfertigt ist, wie sie im einzelnen argumentativ begründet wird und auf welchen Prämissen sie beruht, soll eine Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte der Deutschstunde von 1968 bis heute zu klären versuchen. Die nahezu ausschließlich literaturtheoretisch eingesetzte Autorfunktion erweist sich dabei als so praktikables wie präzises Instrument dieser Rezeptionsanalyse.