Dr. Matthias Löwe (Jena)


Hellas versus Kanaan. Konkurrierende Modelle literarischer Mythos-Rezeption 1900-1950


Respondent: Dr. Kai Sina (Göttingen)


Zeit: 11. Juli 2013, 18h c.t.
Ort: Raum VG 3.102 (Verfügungsgebäude, Platz der Göttinger Sieben 7, 37073 Göttingen).


Abstract

Um 1900 gebrauchen viele Intellektuelle den Mythos-Begriff wie eine okkulte Beschwörungsformel. Im Mythos-Rausch der Jahrhundertwende kommt mithin die Haltung eines bestimmten Intellektuellen-Typs zum Ausdruck, der sich nach dem Aufgehoben-Sein in einem morallosen Naturzustand ohne individuelle Verantwortung sehnt. Vorstellungen einer antiken Archaik dienen dabei oft als Projektionsfläche für diese Sehnsucht, und im frühen 20. Jahrhundert kann man eine regelrechte Überproduktion von Antikendramen beobachten, in denen Instinkte und mythisches Denken das Figurenhandeln bestimmen. Diese Texte behaupten, anthropologische Universalien zu formulieren, in deren Licht sich die Moderne und ihre Leitidee der Autonomie als Trugbild enthüllen: Stattdessen wüte im Menschen der ›blinde Wille‹ wie das Schicksal über den Figuren moderner Mythendramen.
In den 1930er Jahren jedoch wird die moderne Mythophilie sich selbst verdächtig: Schriften wie Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« oder die ideologische Indienstnahme antiker Tragödien auf nationalsozialistischen Bühnen offenbaren ihre Missbrauchbarkeit. Nun stellt sich die Frage, ob man an Potentialen mythischer Bestände festhalten kann, ohne damit einen Entzug von Freiheitsspielräumen zu legitimieren. In Texten der 1930er und 1940er Jahre wird auf dieses Problem mit einer spezifischen Formensprache reagiert: Thomas Mann im »Joseph-Roman« oder Arnold Schönberg im Opernfragment »Moses und Aron« hinterfragen die Gefahren der Mythos-Begeisterung ausgerechnet, indem sie Mythen des Alten Testaments neu ästhetisieren. Offenkundig waren diese eher geeignet für eine Verteidigung von moderner Autonomie und Individualität.
Ausgehend von dieser Beobachtung, will mein Habilitationsprojekt zeigen, dass es sich bei der literarischen Antike- und Bibel-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert um konträre Konstellationen ein und desselben kulturellen Feldes handelt, auf dem Intellektuelle im Gewand antiker oder biblischer Mythen gegeneinander Position beziehen und in einer bis heute offenen Debatte um die Legitimität der Moderne streiten.