Zum Konzept des Editionsvorhabens

Die schwierige Überlieferungslage erfordert adäquate Methoden der Textkonstitution und Kommentierung, die in der geplanten Edition erstmals entwickelt und angewendet werden. So werden keine kontaminierten Fassungen mehr hergestellt; die Brieftexte sollen vielmehr auf der Grundlage der jeweils zuverlässigsten Textüberlieferung – der Handschrift, des Erstdrucks oder einer Abschrift – konstituiert werden. Dafür ist die Autopsie aller Handschriften in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel, im Storm-Archiv in Husum sowie im Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam erforderlich. Die Briefbeilagen werden systematisch ermittelt und nichtüberlieferte Briefe erschlossen, damit die Bedingungen der Briefkommunikation im 19. Jahrhundert und der tatsächliche Umfang des Briefwechsels transparent werden.

Auch die Kommentierung unterscheidet sich maßgeblich von der Erstausgabe des Briefwechsels, weil nicht allein Lexikonwissen reproduziert wird, sondern mit Hilfe der einschlägigen Forschungsliteratur und mit einer umfangreichen Quellenrecherche neue Zusammenhänge erschlossen werden. Der Kommentar umfasst neben dem Herausgeberbericht, dem Überblickskommentar und den annotierten Registern einen Stellenkommentar, der die vielfältigen Dimensionen des Briefwechsels im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts herausarbeitet. Die Berücksichtigung von Umkreis-Briefen und Äußerungen gegenüber anderen Briefpartnern sollen die subjektiven Briefformulierungen Storms und Fontanes perspektivieren und in einen größeren Zusammenhang stellen. Zur biographischen, werk- und zeitgeschichtlichen Kontextualisierung der Briefe werden in einem den Kommentar ergänzenden Abschnitt schließlich auch Fontanes Aufsätze über Storm, Storms Essay über Fontane und Fontanes Gelegenheitsgedichte sowie ein poetischer Entwurf veröffentlicht. Hinzu kommen noch Glossare, etwa eine Liste der Abkürzungen Storms und Fontanes sowie ein Verzeichnis der "Tunnel"-Rituale und -Begriffe, die den Stellenkommentar entlasten und dem Benutzer ein übersichtliches und briefstellenorientiertes Nachschlagewerk bieten.

Es ist zu erwarten, dass die Neuedition durch die überlieferungskritische Textpräsentation und den angestrebten vielschichtigen Kommentar zu einer ausgewogenen Bewertung des Verhältnisses zwischen Storm und Fontane beiträgt sowie Einblicke in die literarischen Produktionsprozesse im Kontext des geselligen „Rütli“-Kreises gibt, dem beide Schriftsteller angehörten. Aufgrund von archivalischen Funden wird man außerdem die Einflüsse der Berliner Schriftsteller-Freunde auf Storms Dichtung und seine juristische Tätigkeit in Potsdam und Heiligenstadt differenzierter beurteilen können. Die Briefbeilagen sowie die Informationen über die Anschriften und Poststempel, die Zustellungsart und den Briefaus- und -eingang, die ebenfalls mitgeteilt werden sollen, sind wichtige Elemente der Briefkultur im 19. Jahrhundert. Die editorische Aufbereitung könnte hier auch für andere Disziplinen neben der Literaturwissenschaft neue Erkenntnisse zu Tage fördern, denn Fontane und Storm gehören zu den bedeutendsten Briefschreibern ihrer Zeit. Die kritische Neuedition wird nicht nur erstmals eine zitierbare Textausgabe des Briefwechsels dieser beiden Autoren bieten und durch den Kommentar Impulse für die zukünftige Storm- und Fontane-Forschung sowie für kulturwissenschaftliche Fragestellungen geben; sie soll auch ein Textkonstitutionsmodell für weitere Briefeditionen mit ähnlichem Überlieferungskontext bereitstellen.