Gut ankommen in Göttingen. Selbstbestimmung und Akzeptanz, Schritte zur Stadt-Bürgerschaft

Ein Interview mit Natascha Wellmann-Rizo vom Migrationszentrum
von Hanne Lewe, 19.08.2019

Geflüchtete wollen nach Flucht und Asylverfahren möglichst schnell wieder selbst über ihr Leben entscheiden: Wo sie wohnen, was sie arbeiten und welche Ausbildung sie beginnen, wo sie sich politisch oder sozial engagieren. Erst wenn ihnen dies gelingt, sind sie wirklich hier angekommen. Geflüchtete wollen, dass sie akzeptiert und respektiert werden, dass ihr Handeln „gut ankommt“. Das Projekt „Ich kann helfen – Teilhabe durch Ehrenamt“ des Migrationszentrums will einen Beitrag dazu leisten, dass Geflüchtete in diesem doppelten Sinne gut in Göttingen ankommen. Im Gespräch über dieses Projekt: Natascha Wellmann-Rizo, Migrationszentrum Göttingen im Diakonieverband, Projektleitung „Ich kann helfen – Teilhabe durch Ehrenamt“ und Hanne Leewe, Ehrenamtliche in der Arbeit mit Geflüchteten.

Hanne Leewe (H): Natascha, du leitest seit Anfang des Jahres das Projekt „Ich kann helfen – Teilhabe durch Ehrenamt“. Gefördert wird das Projekt von der Klosterkammer Hannover, der Stadt Göttingen, dem Diakonischen Werk Niedersachsens, dem Flüchtlingsfond des ev.-luth. Kirchenkreises Göttingen – kompetente und gewichtige Förderer. Es geht im Projekt um die Vermittlung von Geflüchteten ins freiwillige Engagement. Wie ist es zu der Idee eines solchen Projekts gekommen?

Natascha Wellmann-Rizo (N): Ich fing mit der Arbeit im Migrationszentrum vor dreieinhalb Jahren im Projekt „Sei willkommen“ an. Ich habe ehrenamtliche Flüchtlingsbegleiter*innen gewonnen, qualifiziert, miteinander vernetzt und vor allem vermittelt. Zunächst dachte ich: Geflüchtete, das sind Menschen, die Hilfe brauchen, und habe versucht, sie möglichst mit Ehrenamtlichen in Kontakt zu bringen.
Es kamen dann auch einige Geflüchtete, die gesagt haben: „Wir haben viel Hilfe erfahren. Auch hier in Deutschland haben uns ganz viele Menschen und Organisationen geholfen. Wir wollen etwas zurückgeben.“ Sie haben gefragt, wo sie sich engagieren können. Im Migrationszentrum sind wir es gewohnt, Veränderungen in unserer Arbeit sensibel wahrzunehmen und darauf zu reagieren. So haben wir uns darüber Gedanken gemacht, wie wir Geflüchtete dabei unterstützen können, ihre mitgebrachten Kompetenzen zu ihrem eigenen Nutzen und zum Nutzen der Stadt Göttingen einzusetzen. Da gab es handwerklich begabte junge Männer, die haben eine Handwerker-Initiative gegründet ...

H: ...und haben anderen Geflüchteten bei Umzügen geholfen.

N: Ja, und kleine Reparaturen durchgeführt. Das war eine tolle Hilfe, besonders für alleinstehende Frauen. Wir haben Werkzeug besorgt, ich habe ein gespendetes Fahrrad so ausgerüstet, dass sie damit die Werkzeuge transportieren konnten. Es war toll zu sehen, wie die drei Männer sich bei diesem Engagement entwickelten. Und es lief beides gleichzeitig: Ich habe ihnen eine deutsche Ehrenamtliche vermittelt, die z.B. bei Bewerbungen half, also bei den Dingen, die sie selber noch nicht konnten. Und ich habe dafür gesorgt, dass sie das, was sie gut können, in ihrem Ehrenamt anwenden konnten. Ein Mann hatte in seinem Heimatland seine eigene Sprachschule und daher viel Erfahrung als Sprachlehrer. Er wollte einen Deutschkurs anbieten, in dem er seine eigene Unterrichtsmethode anwenden könnte. In einem Job bei einem Bildungsträger wäre das nicht möglich. Im Ehrenamt kann man alles ausprobieren. Ich habe ihm geholfen, den Kurs zu organisieren, und es wurde ein Riesenerfolg. Diese Erfahrungen haben mir gezeigt, dass es viel, viel mehr bringt, wenn die Geflüchteten selbst aktiv werden, ihre Stärken entdecken. Wenn sie entdecken, dass sie nicht nur Hilfe-Nehmende sind, sondern dass sie ganz viel zu geben haben. Und dass auch die Gesellschaft das merkt und die Sichtweise auf Geflüchtete ändert. Empowerment nennt man das wohl. Damit war die Idee für das neue Projekt geboren: Ich wollte von der Hilfe für Geflüchtete zur Hilfe von Geflüchteten kommen und zwar auch außerhalb der Flüchtlingshilfe. D.h., dass Geflüchtete nicht nur anderen Geflüchteten helfen, sondern sich in verschiedenen Ehrenämtern engagieren, die es in Göttingen gibt, von der Diakonie angefangen über die Freiwillige Feuerwehr bis zu den Sportvereinen oder der Tafel. Das war die Projektidee.

H: „Ich kann helfen“ bedeutet für die Teilnehmenden selbst sicherlich eine wichtige Rollenänderung: Sie werden nicht mehr zuerst als Hilfe-Empfänger*innen angesprochen, sie sind selbst Akteure. Und können damit auch – wieder – an ihrer Biographie, die vielleicht durch ihre Flucht und ihr Leben als „Flüchtling“ in Deutschland Brüche erlebt hat, aktiv mitwirken.

H: Wie wirst du im Projekt vorgehen?

N: Das Projekt hat zwei große Ziele, die zwei Zielgruppen betreffen. Das eine Ziel betrifft die Menschen, die sich engagieren wollen, also die neuen Freiwilligen. Da gilt es, denen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen – über ihre Communitys hinaus. Viele kennen die Bedeutung des Ehrenamtes oder des freiwilligen Engagements, wie es bei uns praktiziert wird, nicht. Vieles, was bei uns so schön strukturiert und organisiert ist, läuft in den Herkunftsländern der Menschen ganz anders. Also, wenn man dort weiß, da ist eine Nachbarin, die z.B. krank und alleine ist, dann gehen Nachbarinnen über den Tag verteilt immer wieder hin und gucken, was sie braucht. Und wenn bei uns jemand Hilfe braucht, gibt es dafür Einrichtungen, wie z.B. Stadtteilzentren. Da geht man hin und fragt: „Gibt’s hier Nachbarschaftshilfe?“ Ich überzeichne es bewusst, denn natürlich gibt es auch bei uns spontane Nachbarschaftshilfe. Aber die Hemmschwelle, einem Nachbarn ungefragt Hilfe anzubieten, ist viel höher. Genauso hoch ist die Hemmschwelle, einen Nachbarn um Hilfe zu bitten. Es ist eine andere Alltagskultur, die andere Strukturen hervorgebracht hat.

H: Das heißt also, unsere Strukturen sind das, was die Geflüchteten jetzt lernen müssen? Denn freiwilliges, spontanes, solidarisches Engagement, du hast das beschrieben, kennen viele Geflüchtete sehr wohl. Könnten nicht eher wir von Geflüchteten lernen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie für ihre Nachbar*innen, Familienangehörigen, Mitmenschen eintreten?

N: Auf jeden Fall! Das gilt übrigens ja für das ganze Projekt: Selbstverständlich lernen alle Beteiligten voneinander. Ich selbst ja auch. Und natürlich helfen Menschen in Deutschland auch ohne hauptamtliche Koordinierungsstellen – die Welle der Hilfsbereitschaft 2015 ist ein Beleg dafür. Aber ich glaube schon, dass es in Deutschland noch mal etwas Besonderes ist, wie Ehrenämter organisiert sind. Ich habe z.B. letzte Woche ein Gespräch geführt mit einer Frau, die Ehrenamtliche beim THW ist. Sie hat mir die dortigen Strukturen erklärt: Grundausbildung, Mitgliedschaft, Qualifizierung, Spezialisierung. So ist das in vielen Hilfsorganisationen. Aber es gibt ehrenamtliches Engagement natürlich auch viel niederschwelliger, z.B. in Stadtteilzentren oder wenn in einer Schule ein Sommerfest organisiert wird. Auch da kommt man ins Gespräch mit anderen Eltern, man fühlt sich als ein Teil der Gemeinschaft. Und darum geht es. Also: Strukturen kennenlernen ist das Eine, das Andere ist, sich als einen Teil der Gemeinschaft zu wissen und auch von anderen so gesehen zu werden. Es geht darum, Kontakte zu finden und zu knüpfen über gemeinsame Interessen. Indem man seine eigenen Kompetenzen einsetzt. Und auch anders gesehen wird. Menschen werden dann nicht mehr über ihre Fluchtgeschichte definiert, sondern darüber, was sie können und was sie mögen und was ihnen Spaß macht. Sie machen Dinge zusammen, die Spaß machen. Und das ist auch der Sinn vom Ehrenamt. Und das zeigen ja auch die Umfragen: Keiner macht ein Ehrenamt, wenn es keinen Spaß macht. Das zur Frage, was Geflüchtete davon haben, wenn sie sich ehrenamtlich engagieren. Und – ganz wichtig – sie haben die Möglichkeit, dort Deutsch sprechen zu üben.

H: Und die zweite Zielgruppe?

N: Die zweite Zielgruppe sind die Organisationen, die Ehrenamtliche suchen und einsetzen.

H: Was haben diese Organisationen davon, wenn sie Geflüchtete aufnehmen?

N: Also zum einen ist eine solche Öffnung anderen Kulturen gegenüber immer eine Bereicherung. Die Kompetenzen des Teams werden um weitere Sprach- und Kulturkenntnisse erweitert. Dadurch können sich für die Ehrenamtsorganisationen neue Handlungsmöglichkeiten ergeben und zusätzliche Zielgruppen angesprochen werden. Und sie gewinnen einfach neue Ehrenamtliche. Sehr viele Organisationen haben Nachwuchssorgen.

H: Der quantitative Nutzen leuchtet sofort ein. Aber wie ist es mit dem qualitativen Gewinn? Öffnung gegenüber anderen Kulturen, sagst du. Wie kannst du das im Projekt unterstützen?

N: Neben der Vermittlung von Ehrenamtlichen unterstütze ich die Organisationen mit Fortbildungen, z.B. im Bereich interkulturelle Kompetenz bzw. Transkulturalität. Ich versuche zu vermitteln, worauf es ankommt, wenn man Menschen aus anderen Kulturen in die ehrenamtliche Arbeit einbinden und halten will. Ich informiere über die rechtlichen Rahmenbedingungen, ob und in welchem Maß Asylsuchende sich engagieren dürfen, erkläre in Grundzügen das Asylverfahren, damit es verständlich wird, in welcher Lebenssituation sich die neuen Freiwilligen befinden.
Aber natürlich braucht es auch eine gewisse Bereitschaft bei den Organisationen, sich diesem Thema zu öffnen. Und auch darauf hin arbeite ich in vielen Gesprächen bei unterschiedlichen Anlässen.

H: Du bist ja noch ziemlich am Anfang des Projekts. Gibt es trotzdem schon Erfahrungen – Erfolge oder Schwierigkeiten – von denen du berichten kannst?

N: In der ersten Phase des Projekts liegt der Schwerpunkt auf der Vernetzung. All die Netzwerke, die es z.B. in der Diakonie gibt oder die ich im Projekt „Sei Willkommen“ aufgebaut habe, erweisen sich als eine sehr hilfreiche Grundlage. Einige Geflüchtete, die sich bereits im Rahmen von „Sei Willkommen“ engagiert hatten, habe ich schon in weitere Ehrenämter vermittelt. Sie fungieren jetzt als Multiplikator*innen für die Ansprache neuer Engagierter unter den Migrant*innen. Ich habe auch schon 12 neue Freiwillige gewonnen und führe gerade Gespräche mit Ehrenamtsorganisationen.

H: Du hast in deinem Büro neben deinem Schreibtisch einen Zettel hängen, wo du in Spalten aufgelistet hast, mit wem du reden willst, wen du versuchst zu kontaktieren. Diese Liste finde ich schon beeindruckend lang. Die eine Spalte, das sind die Ehrenamtsorganisationen, mit denen du zusammenarbeitest – Freiwilligenmanagement beim Kirchenkreis, BONUS Freiwilligenzentrum oder Freiwilligenagentur und viele kleine „Anbieter“ von Ehrenämtern.
In der anderen Spalte sind Orte, an denen du mit der zweiten Zielgruppe, den Geflüchteten, ins Gespräch kommen und sie für dein Projekt gewinnen möchtest. Und dann kommen die irgendwie zusammen?

N: Genau. Die kommen natürlich nicht von alleine zusammen. Damit eine Vermittlung funktioniert, muss ich genau den Bedarf erfragen und mich über die Strukturen und Kapazitäten der Organisationen informieren. Manchmal reicht für das Matching jeweils ein Gespräch und die Vermittlung von Kontaktdaten, in anderen Fällen müssen neue Freiwillige auf das Engagement vorbereitet und enger begleitet werden, damit sie den Anforderungen des jeweiligen Ehrenamts gerecht werden können. Bei ehrenamtlichen Teams fehlen dafür oft die Kapazitäten. Ein Beispiel: Auf meiner Vernetzungstour erfahre ich, dass ein kleiner Sportverein eine Übungsleiterin sucht für einen Fitnesskurs in einem Nachbarschaftszentrum. Ein perfektes Engagement, um Leute kennenzulernen und Anschluss zu finden. Ein paar Tage später berate ich, sagen wir, Hamida aus Syrien. Sie erzählt mir, dass sie gerne Sport macht und in Syrien als Englischlehrerin gearbeitet hat. Zwar hat sie selbst noch nie eine Sportgruppe geleitet, dafür aber täglich vor einer Klasse gestanden. Sie ist von meinem Vorschlag begeistert, die Kollegin im Nachbarschaftszentrum auch. Es stellt sich nur noch die Frage, wie viel Unterstützung kann der Verein leisten, um die neue Freiwillige an das Engagement heranzuführen. Ich begleite Hamida zum Treffen mit der Ansprechpartnerin vom Verein und der Leiterin des Nachbarschaftszentrums. Im Gespräch stellt sich heraus, dass eine Ausbildung zur Übungsleiterin nicht sofort möglich wäre. Auch eine Begleitung beim Planen und Durchführen der ersten Stunden könnte niemand leisten. Am Ende verabreden wir, dass Hamida erstmal als Teilnehmerin eine Sportgruppe besucht und zuguckt, wie eine erfahrene Leiterin ihre Stunden gestaltet. In der Zeit suche ich eine Freiwillige, die einen Übungsleiterschein hat, und Hamida bei der Planung der ersten Stunden unterstützen würde.

H: Ein ermutigendes Beispiel. Es lebt davon, dass du auf sehr unterschiedliche Menschen und Situationen flexibel und sensibel eingehst und reagierst.

N: Es ist wichtig, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie erzählen von sich, ihren Wünschen und Bedürfnissen, ihren Zukunftsplänen und dann klickt es bei mir. Im Prozess bekomme ich neue Ideen. So will ich z.B. alle, die sich an verschiedenen Einsatzstellen im Projekt engagieren, untereinander vernetzen, Treffen und Events organisieren, wo sie miteinander ins Gespräch kommen. Geplant ist auch eine Fortbildung in fünf Modulen, wo es um solche Themen gehen wird wie „Demokratie und die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements“, auch interkulturelle Kompetenz, auch Grundlagen des Dolmetschens, weil in der Regel die Sprachkompetenzen der Migrant*innen genutzt werden.

H: Das Projekt heißt im Untertitel: Teilhabe durch Ehrenamt. Wie ist es mit der „Teilhabe“? Wie verstehen die Projektteilnehmer*innen diesen Begriff?

N: Ich glaube, dass ich diesen Begriff „Teilhabe“ erstmal gar nicht erklären will, der ist vielleicht wichtig in unseren Diskursen. Den beteiligten Menschen muss ich zuerst mal klarmachen, was es für sie für einen Vorteil bringt und dass freiwilliges Engagement auch der Gesellschaft nutzt. Es geht ja darum beim Ehrenamt, dass man hilft, dass man es freiwillig tut und dass man kein Geld dafür bekommt. Ich glaube, das muss gar nicht so groß erklärt werden. Das ist klar, das versteht jeder, dass die Gesellschaft davon Nutzen hat, dass die Stadt davon Nutzen hat, dass die direkte Nachbarschaft etwas davon hat, wenn du hilfst. Ich glaube vielmehr, das Wort „Hilfe“ ist hier sehr hilfreich.
Wenn ich jemanden frage, „möchtest du unbezahlt arbeiten?“, kommt das nicht gut an. Und darum geht es auch nicht. Auf keinen Fall sollen jetzt Geflüchtete als unbezahlte Arbeitskräfte ausgenutzt werden. Ehrenamt ist auch nicht etwas, das Hauptamt ersetzt. Es ist auch nicht so, dass Menschen, statt ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sich ehrenamtlich engagieren sollen. Das auf keinen Fall.

H: Obwohl dieses Ehrenamt durchaus hilfreich sein kann, um dann einen bezahlten Job zu finden oder eine Berufsausbildung zu beginnen. Aber das ist nicht Ziel deines Projekts.

N: Also sagen wir so, es steht nicht im Fokus meines Projekts. Jedes ehrenamtliche Engagement bedeutet Kompetenzzuwachs. Die Persönlichkeit wächst. Und das spielt natürlich auch eine Rolle für den Berufseinstieg, wenn Menschen an Selbstvertrauen gewinnen, wenn sie besser Deutsch können, wenn sie vielleicht auch Strukturen kennen gelernt haben und vor allem Leute auch außerhalb ihrer Community. Insofern kann man das gar nicht so ganz voneinander trennen, aber das steht nicht im Fokus. Im Fokus steht tatsächlich, Menschen zu stärken und ihnen zu helfen, sich aus der Opferrolle zu befreien und eine eigene Perspektive auf das eigene Schicksal zu finden und auch die Perspektive der Gesellschaft zu ändern.

H: Nach der Perspektive der Gesellschaft würde ich gerne noch einmal fragen. Du hast gesagt, der Begriff Teilhabe sei für die Kommunikation mit den Migrant*innen nicht hilfreich. Aber es scheint mir doch wichtig – für das Selbstbewusstsein der neuen Ehrenamtlichen –, dass sie wissen, dass sie mit dem, was sie tun, auch für die Stadt, in der sie leben, eine wichtige Funktion übernehmen. Und auch für die veröffentlichte Meinung, für die Geflüchtete ja häufig zuerst ein Problem darzustellen scheinen. Ich denke an eine Frau, die beschreibt, wie sie durch ihr freiwilliges Engagement Respekt von ihren Kolleginnen erfährt. Sie erlebt Anerkennung. Sie wird als Mitbürgerin, als Stadt-Bürgerin respektiert. Und darum gipfelt die Beschreibung ihrer Situation in dem Satz: Göttingen ist schön!

N: Für mich bedeutet Teilhabe genau dies. Dass ich in einer Stadt, in der ich lebe, mich als Teil dieser Stadt fühle. Wenn die Frau sagt, Göttingen ist eine schöne Stadt, heißt das für mich, dass sie sich wohlfühlt. Und genau das ist meine Aufgabe, Geflüchteten zu helfen, eine Aufgabe zu finden, die sie selbst befriedigt und die ihnen Anerkennung in der Stadtgesellschaft einbringt. Ich habe den Eindruck, ich wirke gerade sehr schulmeisterlich mit dem, was ich sage. Es ist nicht so, dass ich den Menschen etwas beibringen muss. Ich will vielmehr mit ihnen zusammen Wege und Orte finden, ihre Kompetenzen, die sie mitbringen, die sie hier vielleicht beruflich nicht anwenden können, einsetzen. Und zwar im Rahmen eines Ehrenamtes. Ich suche, wenn ich eine Person kennen gelernt und einen Eindruck von ihr habe, nach Möglichkeiten. Ich probiere etwas aus zusammen mit diesem Menschen. Und es ist mir auch bewusst, dass es nicht immer klappen wird. Ich werde da, glaube ich, auch sehr viele neue Organisationen, neue Menschen kennen lernen und jede Erfahrung wird für den nächsten Kontakt gewinnbringend sein. Das heißt, ich stehe mit dem, was ich kann, zur Verfügung und möchte, dass wir gemeinsam unsere Kompetenzen einsetzen. Das ist die Idee.

H: Stell dir vor, du könntest unabhängig von Projektträgern, von definierten Zielen und Zeitschienen, unabhängig von manchen Mühseligkeiten des realen Lebens eine Vision entwickeln: Die Stadt Göttingen mit vielen, auch migrantischen Ehrenamtlichen. Wie sähe das aus? Was hätte sich verändert in der Stadt, mit den Menschen?

N: Meine Vision ist gar nicht so unrealistisch, eigentlich wenig visionär. Als ich 1990, das heißt vor fast 30 Jahren, nach Deutschland gekommen bin und dann irgendwann auch ein bisschen Deutsch konnte, war ich sehr bald sehr müde immer wieder zu erzählen, woher ich komme, was meine Muttersprache ist, wie lange ich schon in Deutschland bin, warum ich nach Deutschland gekommen bin. Wenn ich jetzt Menschen kennenlerne, fragt mich das keiner. Wir sprechen darüber, was gerade Thema ist, was wir gerade zusammen tun. Und das ist meine Vision, dass Menschen, die in den letzten Jahren nach Göttingen gekommen sind, nicht mehr über ihre Fluchterfahrung definiert werden. Das heißt natürlich nicht, dass diese Erfahrung für sie keine Rolle spielt.

H: ...aber sie wollen nicht vorrangig oder ausschließlich darüber definiert werden.

N: Genau. Ich möchte, dass sie sich eben als Teil dieser Gesellschaft fühlen und – was viel schwieriger ist – dass die Gesellschaft sie auch als solche sieht und wahrnimmt. Ich glaube, dass es das auch jetzt schon gibt: Es ist noch gar nicht so lange her, dass viele Syrer zu uns gekommen sind. Und guck mal, wie viele syrische Lokale wir mittlerweile in Göttingen haben. Vielleicht ist es ein bisschen banal, Teilhabe an der Anzahl der Imbissbuden festzumachen, aber es geht darum, dass Menschen ihr Schicksal in die Hand nehmen und den Mut aufbringen, sich selbständig zu machen. Und Essen ist ein wichtiger Teil der Alltagskultur und auf jeden Fall eine Bereicherung.

H: Zum Stichwort „Vision“ habe ich noch eine Idee. Du hast vorhin den Begriff „Hilfe“ stark gemacht, füreinander eintreten. Mit einem Fremdwort: Solidarität. Insofern ist ehrenamtliches Engagement von Migrant*innen ein Beitrag zu einer solidarischen Stadt – weiter gefasst, als wir das gemeinhin verstehen. Ehrenamtliches Engagement ist ein Beitrag der Migrant*innen zu einem solidarischen Göttingen. So, wie es im Stadtlabor als Slogan an die Wand geschrieben steht: „Göttingen für alle – für eine solidarische Stadt“.

N: Auf jeden Fall. Was aber auch wichtig ist, das ist mir zum Stichwort „solidarische Stadt“ gerade eingefallen: Es geht natürlich nicht nur um Geflüchtete und Migrant*innen, es geht darum, dass alle Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch bekommen. Und dass alle Menschen in dem, was sie können oder nicht können, gestärkt werden. D.h., es geht um sozial Schwache, egal welchen Hintergrund und welche Wurzeln sie haben. Ein Beispiel: Wenn Geflüchtete aus dem Landkreis darüber klagen, dass sie die Hilfs- und Bildungsangebote in Göttingen nicht wahrnehmen können, weil sie die Fahrtkosten nicht bezahlen können, weil die Busse so schlecht fahren – dann ist das genauso ein großes Problem für Menschen ohne Migrations- und Fluchthintergrund. Und genauso ist es, wenn Menschen schlechte Erfahrungen mit Behörden machen, auch Alt-Bürger, die sich nicht gut ausdrücken und durchsetzen können, stehen vor dem gleichen Problem. Das gehört auch zu meiner Vision, dass auch in diesem Bereich der Hilfe nicht unterschieden wird zwischen Alt-Bürger*innen ohne Migrationserfahrung und Neu-Bürger*innen mit Migrationshintergrund.
Wir haben in Göttingen sehr viele Organisationen mit Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen der sozialen Hilfen. Und ich finde, es müssen häufig gar nicht neue Angebote speziell für Geflüchtete und Migranten entstehen. Denn es gibt schon Angebote und – das kann ich aus meiner Erfahrung nach dreieinhalb Jahren im Migrationszentrum sagen – sie stehen allen Gruppen offen. Man muss nicht das Rad neu erfinden.

H: Liebe Natascha, danke für das Gespräch und viel Erfolg im Projekt „Ich kann helfen – Teilhabe durch Ehrenamt“.