„Ich sehe es als meinen Job, zu skandalisieren, was passiert.“
Eine mitgehende Reportage zur Praxis von Behörden-Watch
von Petra Dewald und Simon Lauer, 19.08.2019
Behörden-Watch Göttingen ist eine politische Gruppe, die Geflüchtete zu Amtsterminen begleitet. Ihr Untertitel lautet „Ausgrenzender Ämterschikane entgegentreten“:
Die Idee ist es, strukturellen Rassismus öffentlich zu machen, durch die Anwesenheit weißer Menschen Erlebnisse dieser Art zu verringern und sich solidarisch zu zeigen.
Es ist noch einmal gut gegangen
Es ist etwa Viertel vor neun, ein grauer Montagmorgen in Göttingen. Die Stimmung auf den Straßen ist, durch das Morgenlicht geprägt, von einer seltsam dystopisch anmutenden Atmosphäre. Ich denke darüber nach, ob ich die Situation anders empfinden würde, wenn ich beispielsweise auf dem Weg in ein Café wäre. Nach einem kurzen Weg auf dem Rad komme ich am Stadtlabor an, die Schaufenster leuchten in warmweißem Licht, eine Person ist schon da. Mit Kaffeebechern in den Händen tauchen weitere, teils mir bekannte, teils unbekannte Gesichter auf, um die Begleitung zu unterstützen. 15 Minuten später sind wir fünf bis sechs Personen, einige stehen vor der Tür und rauchen, andere unterhalten sich leise im Eingangszimmer, nach und nach kommen mehr dazu.
Am runden Tisch haben sich acht, neun Menschen zusammengesetzt und besprechen Verschiedenes: “Wer hat einen Termin? Wer begleitet die Person, wie ist ihr Status? Wo ist das Gebäude, wo die Eingänge und Ausgänge? Woran erkennt man die Polizeibeamt_innen, die die Abschiebungen durchführen?” In der Runde wird diskutiert, die Begleitperson für den ersten Termin ist gefunden und wird eingeführt. Die Begleitung ist optimistisch, aber nervös, da sie die Aufgabe bisher nicht übernommen hat. Es macht insgesamt den Anschein, als wären die Unterstützer_innen fast aufgeregter als die betroffenen Personen. Heute stehen zwei Termine an: um 09.15 Uhr und um 09.30 Uhr. “Offiziell hat die Stadt Göttingen erklärt, sie schiebe nicht in Behörden ab, trotzdem ist J. letztes Jahr direkt vor seinem Termin auf dem Rathausvorplatz von der Polizei festgenommen und abgeschoben worden”, erzählt S. mit leiser Stimme einigen Neuen.
Um kurz nach neun verteilen sich die Aktivist_innen in Grüppchen vor der Ausländerbehörde und dem Rathaus. Vereinzelt laufen Menschen im Regen zwischen den Anwesenden hin und her und diskutieren miteinander: über das vorbeilaufende Ordnungsamt, über die Sicherheitsbeamt_innen, die am Eingang stehen, uns beobachten und telefonieren. T. verlässt mit seiner Begleitung das Stadtlabor und betritt die Ausländerbehörde, um zu seinem Termin zu gehen. Wir stehen jetzt mit etwa 15 Personen auf dem Vorplatz verteilt. Viele Augen verfolgen, wie T. wieder aus dem Gebäude kommt und atmen auf, als er zurück ins Stadtlabor geht. Alle Anwesenden – in der Zwischenzeit ist die Zahl auf etwa 30 Menschen gestiegen – beobachten das Geschehen rund um die Behörde und die Straße auf das Genaueste. Ich muss an ein Computerspiel denken, die Situation erscheint mir so surreal. Die Kluft verschiedener Lebensrealitäten – allein von Menschen, die in Deutschland leben – ist für mich nicht vorstellbar.
Die Zahl der Unterstützer_innen liegt jetzt bei 35 bis 40, alle schauen sich an, wie M., die zweite Person mit Amtstermin, aus dem Stadtlabor kommt und in Begleitung einer Freundin in die Behörde geht. Ich kenne M., als er an mir vorbeigeht, versuche ich, ihm das unbeschwerteste Lächeln zuzuwerfen, das ich mir in dem Moment abringen kann. Dabei denke ich darüber nach, wie unterschiedlich ein Morgen aussehen kann: Während ich eine Stunde vorher noch überlegt habe, ob ich nicht doch zu müde bin, um aus meinem warmen Bett aufzustehen, wusste M., dass dieser Termin wieder mal sein Leben grundlegend verändern und über seine komplette Zukunft entscheiden kann. In dem Büro sitzt ein_e Sachbearbeiter_in, der_die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit niemals M.s Situation nachvollziehen kann und nie nachempfinden wird, welche Auswirkungen seine_ihre Entscheidungen hat. M. und T. sind in dem Moment vor allem „Fälle“, die abgehandelt werden. Umso mehr freue ich mich, zu sehen, dass wir inzwischen über 45 Personen sind, die die Situation im Blick behalten und vor allem auch M. und T. zeigen, dass ihnen nicht egal ist, was dort passiert. “Es kommen nicht immer so viele Menschen, aber M. hat viele Freund_innen und der Termin schien heikel”, erzählt mir J.. Zehn Minuten später kommt M. aus der Behörde. Er wird erst von fünf, sechs Menschen begleitet, es kommen mehr dazu, schnell sind es fünfzehn, zwanzig. Alle Unterstützer_innen behalten die Gruppe nervös im Blick, denn mittendrin laufen zwei Beamt_innen in Ordnungsamtsuniform, es wird aufgeregt getuschelt: „Ist das Zufall? Was wollen die da?“
M. und S. sind weg, die Unterstützer_innen stehen vor dem Stadtlabor und atmen auf. Alle reden durcheinander, manche noch über den nächsten Termin, der in einigen Wochen ansteht, manche über den Anwaltstermin, der später ausgemacht werden soll. Dieses Mal ist alles gut gegangen.
Es geht nicht darum, die „Behörde zu reformieren“
“Von Seiten der Behörden werden keine Versuche unternommen, mit den Aktivist_innen von Behörden-Watch in einen Dialog zu treten”, sagt S., eine_r der Aktivist_innen, die Behörden- Watch mitinitiiert haben. „Auch dann nicht, wenn wie am Montag in kurzer Zeit knapp 50 Menschen vor dem Rathaus in Göttingen mobilisiert werden können.“ Auch Behörden-Watch unternimmt keine Versuche, durch Gespräche mit den Mitarbeiter_innen der Institutionen Veränderungen hervorzubringen. Die Nachfolgegruppe von Deportation Watch sieht ihre Aufgaben und Ziele nicht darin, „die Behörde zu reformieren“. „Daran wurden sich schon in den 90ern die Zähne ausgebissen“, sagt S. im Interview. „Ich sehe es eher als meinen Job, das zu skandalisieren, was wir mitkriegen, und den Finger darauf zu legen und zu sagen: So ist es, und das ist scheiße!“
Der Mangel an personellen und zeitlichen Kapazitäten und die veränderten Dynamiken bei der Abschiebung haben dazu geführt, dass es nicht mehr ausreicht, sich nachts vor die Aufnahmeeinrichtungen zu stellen, um zu beobachten, ob und wann Abschiebungen durchgeführt werden. Die Polizei vollstreckt Abschiebebescheide nun vermehrt auch außerhalb der Unterkünfte, wie zum Beispiel vor der Ausländerbehörde selbst. Laut einer Erklärung der Stadt Göttingen, nachzulesen in der TAZ vom 09.09.2016[1], werde aus Behörden nicht mehr abgeschoben. Das stellt allerdings keine Verbesserung der Situation dar, sondern ist nur ein Jonglieren mit Worten: Denn auch wenn keine Personen mehr aus der Behörde abgeschoben werden, kommt es immer wieder zu Abschiebeversuchen auf dem Hiroshimaplatz – und somit vor der Behörde.
Rassismus im Behördenhandeln entgegentreten
Neben den Aktionen zum Abschiebeschutz sieht Behörden-Watch ihre Aufgaben vor allem darin, dem Rassismus gegenüber Migrant_innen in den Ämtern entgegenzutreten. Per se sind Begleitungen von Geflüchteten bei Behördengängen nichts Neues: „Wir sind vor 10 Jahren auch schon zur Begleitung mit in die Behörden gegangen“, erzählt S.. Neu ist die Form, wie Behörden-Watch ihre Arbeit begreift. Die Aktionen sollen „weg von diesen individuellen Hilfen“ und sich „eher als politische Aktionsform begreifen und damit auch an die Öffentlichkeit gehen.“ Die Begleitungen durch ein oder zwei Personen bis in das Gespräch mit dem_der Sachbearbeiter_in werden explizit von den Betroffenen angefragt. Es geht hauptsächlich darum, den Menschen beizustehen und das Verhalten der Mitarbeiter_innen in den Behörden zu beobachten.
Migrant_innen sind bei Behördengängen oft rassistischen Äußerungen und Schikanen ausgesetzt. Diese reichen von herablassenden Kommentaren der Beamt_innen über ungerechtfertigte Leistungskürzungen bis hin zu – unter dem Druck der Behördenmitarbeiter_innen – ungewollt unterzeichneten Dokumenten. Behörden-Watch dokumentiert diese Vorfälle und trägt sie, auf Wunsch der Betroffenen, an die Öffentlichkeit. Migrant_innen berichten von einer deutlich veränderten Haltung der Sachbearbeiter_innen, hervorgerufen durch die einfache Präsenz einer weißen Begleitperson. Die Begleitungen haben allerdings nicht nur positive Auswirkungen, da es schnell zu Entmündigungen der Geflüchteten kommt, wie A. berichtet. „Wenn du als Begleitung da reingehst und was sagst, dann ist das so, als wenn die geflüchtete Person das gesagt hätte und die Interaktion findet mit dir statt.“ Es ist den Aktivist_innen von Behörden-Watch deshalb wichtig, sich an ihre Beobachter_innenrolle zu halten und sich nur nach vorheriger Absprache mit der zu begleitenden Person zu äußern.
In Situationen, in denen Geflüchtete diskriminierend behandelt werden, schaffen es aber auch die Begleitpersonen oft nicht, sich zurückzuhalten. Die wiederholte Begleitung vertieft die Beziehung zwischen Begleitungperson und der_m Geflüchteten, was es ihr zusätzlich erschwert, die Entrechtungen einfach passiv hinzunehmen.
Über Flyeraktionen, Infostände vor dem Rathaus und auf der Facebook-Seite Behörden-Watch Göttingen veröffentlicht die Gruppe Berichte und informiert über ihre Arbeit. Der Kontakt zwischen den Geflüchteten und den Aktivist_innen kommt in den meisten Fällen über Bekanntschaften und persönliche Anfragen zustande. Behörden-Watch verfügt auch über eine Infonummer, bei der Menschen, die Begleitung bei Behördengängen wünschen, anrufen können.
Seit Anfang Juni ist auch das Stadtlabor: Migration bewegt Göttingen zu einem Treffpunkt für Behörden-Watch geworden. Die geographisch günstige Lage gegenüber der Ausländerbehörde ermöglicht es Begleiteten und Begleitenden, sich dort in einem „sicheren Raum“ für Vor- und Nachbesprechungen zu treffen. Auch bietet das Stadtlabor Raum für Informationsaustausch zwischen Geflüchteten, die sich in ähnlichen Situationen befinden.
Die Aufdeckung und Bekanntmachung der rassistischen Praktiken in den Behörden sind zwei der Ziele, die sich die Mitglieder von Behörden-Watch gesetzt haben. “An der Umsetzung dieses Punktes besteht allerdings noch Nachholbedarf”, erzählt A. im Interview. Vor allem wenn eine Person über einen längeren Zeitraum begleitet wird, erhalten die Begleitpersonen einen Einblick in die ausgrenzende und rassistische Dimension des Migrations- und Abschieberegimes. Das dort Dokumentierte fällt auch den Begleitpersonen oft nicht leicht in Worte zu fassen. „Das ist eigentlich unbeschreiblich sowas, das ist echt irre.“
Die Solidarität der Aktivist_innen von Behörden-Watch mit den Geflüchteten gibt ihnen Kraft, sich nicht von einem zermürbenden System „kaputt machen zu lassen“. Ein System, das systematisch versucht, Perspektivlosigkeit zu erzeugen und Existenzängste zu schüren, das „Menschen krank macht“ und versucht, sie zur Ausreise zu bewegen. S. betont ihre Bewunderung für das Durchhaltevermögen vieler Betroffenen: „Ich bin ja schon lange dabei und kenne viele von den Geflüchteten auch schon lange. Es ist der Wahnsinn, zu sehen, wie viele nach einer furchtbaren Situation über ein, zwei oder mehr Jahre reagieren. Dann kommt mal ein Punkt, wo sich das Blatt wendet und sie endlich einen Aufenthalt haben und Sicherheit: wie die aufblühen! Das ist echt der Wahnsinn. Da ist Behörden-Watch ein kleines Ding, was die Situation ein bisschen erträglicher macht.“